VII. Krisen erzeugen Erregungszustände, die sich z.B. in ungezügelten und die Grenze des Verantwortbaren überschreitenden Massendemonstrationen wie jener „Anti-Corona-Demonstration“ in Berlin Anfang August zeigen; in mehr oder minder harmloser redundanter Empörungsrhetorik sich öffentlich Gehör verschaffen – aber auch in Gestalt neuer Tugendwächter, die denjenigen, der in ihren Augen das Falsche sagt, schnell an den Pranger stellen. Eric Gujer spricht hier von einem „Klima der Einschüchterung, in dem sich viele überlegen, was sie noch sagen sollen“, NZZ, Neue Zürcher Zeitung, 15.8.20.
Krise, krisis – das Nomen des griechischen Verbs „krino“: wählen, urteilen, scheiden, entscheiden, meint aber nun einmal mehr, als einfache Antworten auf herausfordernde Ereignisse und Konflikte welcher Art auch immer mit schlichter Empörungsrhetorik oder ungestümen und unterkomplexen „Wir-sind-dagegen-Demonstrationen“, die immer wieder auch mit Verschwörungstheorien unterschiedlicher Provenienz gespickt sind, gefunden zu haben. Was Empörungsrhetoriker, verschwörungstheoretische Wir-sind-dagegen-Demonstranten und populistische Schreihälse eint, ist ihr Selbstverständnis, Hüter und Wächter von Moral, Wahrheit, Tugend – und Freiheit zu sein.
Ralf Dahrendorf veröffentlichte 2003 „Acht Anmerkungen zum Populismus“, die an Aktualität nichts eingebüßt haben:
„Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex (…). Mit Komplexität leben zu lernen – das ist vielleicht die größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung. In reifen Demokratien wissen die Wähler, dass nicht alle Blütenträume der Politiker reifen können“, These 5.
Krisen und der Umgang mit ihnen spiegeln diese Komplexität, der wir nicht mit vermeintlich einfachen Antworten und Lösungen entkommen können. Eine Politik der tätigen Freiheit (Dahrendorf) weiß, dass die Geschichte keinem vorbestimmten Plan folgt; dass sie – wie Karl Popper es formulierte – keinen Sinn hat; dass wir ihr aber einen Sinn geben können:
„Wir müssen vorangehen in das Unbekannte, Ungewisse und Unsichere, wobei wir die Vernunft, die uns zu Gebote steht, dazu nutzen, beide Sicherheit und Freiheit, zu schaffen“.
Erregungszustände abkühlen, Sachlichkeit und Vernunft in die Empörungsrhetorik implantieren und ihr mit Skepsis und Gelassenheit begegnen, dem Unsinn Sinn vermitteln – Schritte auf dem Weg zu einer bürgerschaftlichen Gesellschaft, die Menschen ermutigen und ermächtigen zur politischen Teilhabe. Kurzum: Lebenschancen eröffnen, das Unbekannte, Ungewisse und Unsichere gestalten, Bildung zu einer liberalen und wehrhaften Demokratie:
„ Demokratie und Bildung sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Ohne Bildung ist Demokratie als Staats- und als Lebensform nicht möglich und Bildung befördert die Demokratie, in der demokratischen Praxis bewährt und erfüllt sich Bildung“.
Bildung ist der clavis salomonis, der Schlüssel zur Weisheit (Sophia), d.h.: Bildung generiert wohlbegründetes Wissen; Bildung zeigt sich in Lebensklugheit (Phronesis), da sie erfahrungsgesättigt ist und: Bildung beruht auf der Fähigkeit, Emotionen kontrollieren und zu diesen kritisch Stellung beziehen zu können.
VIII. Bildung ist ein lebenslanger und ganzheitlicher Lernprozess, der nicht nur das einzelne Individuum und seine Biographie betrifft, sondern jeden Einzelnen als Teil der Bürgergesellschaft dazu befähigt, eine lernende Demokratie mitzugestalten. Bildung ist Befähigung zur Demokratie.
Zweifelsohne steht Humboldt in der Tradition der Aufklärung: Bildung ist die Bestimmung des Menschen. Der Zweck der menschlichen Existenz in der Moral und damit der Freiheit, auf die sich das ganze menschliche Vernunftinteresse bezieht. Bildung hat die Bedeutung der vernünftigen „Selbstaufklärung“ des Menschen. Für Humboldt jedoch ist Bildung darüber hinaus noch mehr:
- Bildung ist „Selbstbildung“ in einem empathischen Sinn: ein dem Menschen anthropologisch von Natur aus innewohnender „Bildungstrieb“, der den Menschen dazu befähigt, sich an allen außerhalb des Menschen liegenden Gegenständen zu formen, d.h.: eine Kultivierung des Geistes.
- Von dieser Grundüberlegung her erklärt sich auch der oft zitierte und als „Substrat“ seiner Bildungsgedanken verstandene Satz:
„Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“.
Humboldts These, dass alle Bildung ihren Ursprung in dem Inneren der Seele hat und durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden kann, ermöglichte ihm eine staatskritische Perspektive. So galt Humboldt alle öffentliche Erziehung als bedenklich, weil sie individuelle Unterschiede nicht zu berücksichtigen vermag und daher vereinseitigt. Dies führte bei Humboldt zu einer Frontstellung gegen gesellschaftliche wie staatliche Überformungsversuche des Individuums, und seien diese auch ausdrücklich auf das Wohl des Individuums ausgerichtet. Er kritisierte die staatliche Fürsorge für das Wohl des Einzelnen, da sie Einförmigkeit produziere und man Güter erlange, ohne dafür Kräfte einzusetzen. M.a.W.:
Humboldt bewegt sich in seiner staatskritischen Haltung auf liberalem Territorium: der Staat hat sich zu beschränken auf die Sorge um die Sicherheit seiner Bürger im Innern und an seinen Außengrenzen und sich jedweder Sorge um seine Bürger zu enthalten, da dies zur Konformität seiner Bürger führe, ihnen dadurch die Freiheit als unabdingbare Voraussetzung jeder Bildung im skizzierten Sinne entzogen würde und ihnen die Möglichkeiten (Optionen, Dahrendorf!) vorenthalten würden, in Selbsttätigkeit ihr Leben zu gestalten (Autor der eigenen Biographie zu werden, Nida-Rümelin!).
IX. Hat das „Humboldtsche Bildungsideal“ eine Aktualität? Zunächst: Die Formulierung ist zu einer stehenden, stereotypischen Wendung geworden, die m.E. emotional-empathisch aufgeladen Hoffnungen und Erwartungen in Bildungsdiskussionen weckt. Die Frage, was dieses Ideal eigentlich ist, bleibt letztlich offen und ist nur in Teilaspekten zu beantworten – m.a.W.: Humboldt hat kein geschlossenes Bildungskonzept, keine kohärente Bildungstheorie vorgelegt. Dies zeigt sich auch darin, dass es keine ausgearbeitete Bildungsschrift gibt, sondern seine Gedanken und Überlegungen sich in unterschiedlichen Veröffentlichungen wiederfinden, die z.T. auch erst postum veröffentlich worden sind.
Dennoch: als liberaler Ideengeber, der zumindest zeitweise aktiv die preußische Bildungspolitik mitgestaltete[1], haben einige seiner grundlegenden Gedanken gerade heute in Zeiten der Digitalisierung und ihrer herausfordernden Bedeutung für die schulische und außerschulische Bildung einerseits und für die Gefährdungen, die der Demokratie, der liberalen Bürgergesellschaft und ihrer „Verfassung der Freiheit“ von (rechts- und national-)populistischen Kräften drohen, zentrale Bedeutung:
- Allgemeinbildung: Humboldt nennt vier Grundkräfte, die anthropologisch konstitutiv für den Menschen sind: Verstand, Gefühl, Anschauung und Einbildungskraft. Im Mittelpunkt seines Bemühens steht die Entwicklung des Denkens. Dabei ist Denken kein objektiver Prozess, es ist auf das Engste mit dem Gefühl verknüpft. Deshalb müssen neben dem Verstand die übrigen Kräfte im Unterricht in gleicher Weise herausgefordert werden. Damit ist nichts weniger gemeint als das, was gemeinhin als „Ganzheitlichkeit“ tituliert wird – für Humboldt: die (ganzheitliche) Ausbildung des Charakters und die Förderung der Individualität. Wesentlich hierbei: Menschenbildung ist Bildung zum Bürger. So verstandene Allgemeinbildung lässt den einzelnen Menschen „Zweck an sich sein“ und damit Subjekt und autonom Handelnder (Kant). Allgemeinbildung ist somit geradezu ein ideologiekritischer Schutzschild. Sie erst schafft die Voraussetzungen, ein Höchstmaß an Lebenschancen (Optionen) zu ermöglichen.
- Lebenslanges Lernen: Bildung ist für Humboldt ein unabgeschlossener, sprich: lebenslanger, Prozess. Es mag der idealistischen, aus Aufklärung und Romantik gespeisten, Auffassung dieses Menschenbildes gezollt sein, dass in seiner Vorstellung der Mensch aufgrund seines innewohnenden „Bildungstriebes“ sich nie mit gefundenen Antworten zufrieden gibt. Und sicher war „lebenslanges Lernen“ zu Beginn des 19.Jahrhunderts im Kontext einer überschaubaren Menge an Wissen mehr möglich als heute, wo wir durch Internet und Digitalisierung aller Lebensbereiche zu einer „globalen Informationsgesellschaft“ mutieren. Aber gerade auch hier können Humboldts Ansätze fruchtbar werden: Lernen bedeutet, sich differenziert zu bilden, m.a.W.: zwischen „Information“ und „Wissen“ zu unterscheiden, d.h.: Informationen in Wissen zu transformieren und dessen schließliche praktische Umsetzung in Handlung und Gestaltung.
- Gerade in unserem Epochenumbruch, in dem mit der Digitalisierung sich deutlich der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft formt, ist lebenslanges Lernen im Humboldtschen Sinne ein Transformationsprozess, der Menschen neue Lebenschancen bietet und sie schafft.
- Demokratie lernen: Es ist sicherlich unangebracht, Humboldt als einen Demokraten zu beschreiben. Dennoch weisen sein Bildungsdenken und sein Menschenbild Ansätze zu einer „lernenden Demokratie“ auf. Bildung im Humboldtschen Sinne ist nicht nur ein ideologiekritischer Schutzschild (siehe oben), sondern Bildung gestaltet die Bürgergesellschaft im bisher beschriebenen Sinn. Bildung macht Demokratie widerstandsfähig und wehrhaft. Sie schafft Resillienz:
„Der Begriff der ‚demokratischen Resillienz‘ bezeichnet die Anpassungsfähigkeit demokratischer Institutionen an neue Herausforderungen, darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, neue Verfahren in die bestehende Demokratie zu integrieren. Demokratische Resillienz bedeutet, dass die Demokratie sich ändern und anpassen kann, ohne ihren Status als Demokratie in Frage zu stellen“ (BpB, 2012).