In „Weltethos für das 21. Jahrhundert“ (Hemel (Hrsg.) 2019) diagnostiziere ich mit Dr. Raban D. Fuhrmann die Herausforderungen unserer liberalen Demokratien. Daraus im folgenden Auszüge (mit neuen Zwischenüberschriften).
„Die Umbrüche unserer Zeit stellen die Regierungsform liberaler Demokratien nicht einfach nur vor neue Aufgaben. Sondern sie belasten den Grundkonsens, die Institutionen und die Kultur der Demokratie als Lebensform insgesamt. Klimakrise, Digitalisierung, wirtschaftliche und demographische Lastenverschiebung, europäische Integration und der Umbruch der Weltordnung erfordern jederzeit leistungs- und reformfähige, global handlungsfähige Politik – vor Ort, regional und national, aber natürlich auch in Europa und Welt. Wo aber die Politik diese Umbrüche nicht zum Schutz oder gar Vorteil der Betroffenen zu regulieren und gestalten vermag, haben autoritäre Populisten ein Heimspiel, eine verunsicherte Bevölkerung mit scheinbar einfachen Alternativen anzusprechen. (…)
Kann Demokratie Nachhaltigkeit?
Schon lange wecken der Klimawandel, der Ressourcenverbrauch und die Belastungen unserer Umwelt Zweifel an der Nachhaltigkeit einer freiheitlich-demokratischen Lebensweise. Viele Menschen in Europa und der Welt spüren, dass liberale Demokratien über ihre Verhältnisse und Grenzen leben, wirtschaften und konsumieren. Oft sorgen sie sich, dass dies auf Kosten der Lebenschancen von Menschen in anderen Teilen der Welt geschieht und damit auch Flucht und Migration fördert. Manche Menschen trauen Demokratien deshalb schon gar nicht mehr zu, überhaupt langfristig und global verantwortliche Politik zu betreiben oder zerstörerischen Kräfte einer global entfesselten Wirtschaft und Finanzwirtschaft Einhalt zu gebieten – zumal auch die demokratische Qualität und Legitimität europäisch oder global abgestimmten Handelns in Brüssel und New York in Frage gestellt wird.
Digitalisierung: Segen oder Fluch für die Demokratie?
Auch die Digitalisierung stellt eine verantwortliche demokratische Praxis in Frage. Digitale Plattformen formatieren unsere demokratische Öffentlichkeit neu. Es wird leichter, eine Meinung frei zu verbreiten, aber schwerer, Konsens verantwortlich zu kultivieren. Digitale Kommunikation erleichtert nicht nur die Emanzipation bislang randständiger Gruppen, sondern auch die Mobilisierung extremistischer Netzwerke. Beides begünstigt Politik als Bewegung und erschwert Politik als Problemlösung. Und während sich einerseits aktive Bürger digital immer besser beteiligen können, steigen andere Menschen aus der demokratischen Teilhabe dauerhaft aus.
Liefert unsere Demokratie noch bei den Versprechen des Sozialvertrags?
Demokratische Teilhabe steht auch in Gefahr, wo der demographische Wandel die Grundlagen des Sozialvertrags von Demokratien verändert. Viele Demokratien werden älter, bunter und städtischer, und auch die Geschlechterverhältnisse verändern sich. Das alles verschiebt die Lastenverteilung zwischen Alt und Jung, Stadt und Land, Bürgern und Zugewanderten, Arm und Reich und Staat und Bürgern. Damit steht auch das für den demokratischen Zusammenhalt zentrale Versprechen der Sozialverträge in Frage, solidarische, gerechte und gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, in denen Aufstieg möglich ist.
Manche Bevölkerungsteile, die wenigstens einen theoretischen Anspruch auf Aufstiegs- und Teilhabechancen hatten, sehen ihn mit der beschleunigten Veränderung praktisch schwinden. Für sie ist ein Sozialvertrag, der für ihre Familien noch nie funktioniert hat, eine Lüge. Zugleich wecken die lang anhaltende Stagnation von Einkommen und Vermögen bei vielen Menschen in vielen Volkswirtschaften bis in die Mitte der Gesellschaft hinein Ängste vor Verlust, Abstieg und Rückschritt. Statt wie ihre Eltern und Großeltern auf Aufstieg zu hoffen, fürchten viele Menschen die Übervorteilung durch besser organisierte und finanzierte Interessensgruppen und den eigenen Abstieg. Das bürgerschaftliche Miteinander, das für viele Gemeinden gestern noch selbstverständlich war, leidet nicht nur in ländlichen Gebieten heute ebenso unter Nachwuchs-Sorgen wie demokratische Gremien.
Woher kommt der Vertrauensverlust in die Demokratie und die Offenheit für autoritäre „Alternativen“?
Wirtschaftliche Verunsicherung befördert wiederum den schon lange anhaltenden Vertrauensverlust in Parteien und ihre Politiker. Der Vertrauensverlust in unser politisches System hat viele Ursachen, die aber in vielen Demokratien in den Eindruck münden, Demokratien würden die Kontrolle über die gesellschaftliche Entwicklung verlieren, und möglicherweise brauche Politik mehr autokratische Entscheidung. Die Furcht vor Kontroll- und Steuerungsverlust hat in den vergangenen Jahren der Flüchtlingskrise nicht abgenommen und war ein wichtiges Motiv für den Erfolg populistischer und autoritärer Politik. Im Gegenteil erleichtert der Eindruck grenzenloser Migration und exekutiver Ohnmacht es rechtspopulistischen und autoritären Parteien und religiösen Extremisten, die kulturelle Verunsicherung vieler Menschen über die Identität und die Regeln und Gepflogenheiten freiheitlicher und bunter Gesellschaft zu verstärken. Als Kulturkampf ist das von neoreaktionären Kräften erzeugte Gemisch aus Desinformation, Propaganda, digitalem Waffenarsenal, importierten Konflikten, Gewaltbereitschaft und Terror Gift für das Klima freiheitlicher Demokratien.
Demokratie muss Probleme lösen können!
Bei vielen Demokratinnen und Demokraten wächst aus diesen Gründen das Misstrauen in die Standfestigkeit ihrer Demokratien und in ihre Fähigkeit, Probleme lösen zu können, Veränderungen zu gestalten und Wohlstand zu sichern. Diese schleichende Entwicklung gefährdet die Akzeptanz und Funktionsweise moderner demokratischer Grundordnungen. Dagegen umfassende, nicht nur institutionell, sondern auch in unseren Lebensformen verwurzelte demokratische Problemlösungsfähigkeit zu gewährleisten und zu stärken, ist zur dringlichsten weltethischen Anforderung an die Reform von Demokratien selbst geworden.“