Was meint ein Liberalismus der verantworteten Freiheit in der Spätmoderne? Die stellvertretende Vorsitzende der Kommission Freiheit und Ethik, Pastorin Sybille Fritsch-Oppermann, weist einen mühsamen liberalen Weg der „verantworteten Vorläufigkeit“ zwischen den Extremen moderner Ideologien und postmodernem „anything goes“ zum Ausgleich zwischen den drängenden Fragen ökonomischer Gerechtigkeit und ökologischer Klugheit.
Vom voraufklärerischen Vor-Urteil
Es hat den Anschein – und die Corona Pandemie verstärkt diesen Eindruck leider – als wäre es der einen oder anderen bundesdeutschen Partei noch nicht wirklich gelungen, einen überzeugenden Weg in die (späte) Moderne zu finden. Das ist insofern ein wenig kafkaesk als es gerade die Vertreter_innen dieser Parteien sind, die nicht müde werden, mindestens verbal auf den unaufgeklärten Islam als ganzen einzudreschen, statt zwischen Islam und islamisch geprägter Politik, zwischen europäischem und arabischen, asiatischem und deutschen Islam zu differenzieren oder sich die Mühe zu machen, die unterschiedlichen modernen, konservativen und, ja, auch islamistischen Strömungen und deren Wirkungen deutlicher anzuschauen.
Der Verlust der Urteilskraft im postmodernen Habitus
Andere Parteien wiederum – und dies gemeinsam mit selbsternannten Humanist_innen und Weltverbesserern oder auch mit der Aufklärung müden Vertreter_innen von Kirchen und Volkskirchen – sind mit einem kühnen Satz bereits vor langer Zeit in der Postmoderne gelandet. Postmoderne hier verstanden nicht in einem philosophisch-soziologischen, sondern in einem umgangssprachlich-esoterischen Sinn: alles geht immer irgendwie und irgendwie auch anders, wenn es denn den nächsten Wahlen dient und die breite Masse da abholt, wo sie gerne hin, bzw. ohne irgendeinen Preis hierfür zu zahlen verweilen möchte. Im Wohlstand, in einer durch keine Gegenleistung „verdienten“ Grundabsicherung, im Kaufrausch und in der meistens äußerlichen Vervollkommnung eines Ich, das entweder nur noch rudimentär vorhanden ist – das allerdings voll Selbstbewusstseins – oder mit Hilfe der Mehrheitsmeinung, die Politiker um der Stimmen willen hätscheln, ins Egomane abdriftet. Auch kein Wunder, wenn die Volksvertreter__innen mindestens an diesem Punkt das nachbeten und wider-spiegeln, das sich als „Gemeinwohl“ verkleidet am jeweils Schwächeren, also vielleicht freieren, aber nicht ganz so egomanen Mitbürger vergreift. „In Ketten mit denen, die Liberalismus in den Diskurs stellen statt billige Gnade für alle zu predigen“. Und in der Tat ist so manche Wahlkampfrede und manche öffentliche Stellungnahme der christlichen oder eben auch grünen Zeitgenoss_innen ja nicht mehr so wirklich vom Predigen zu Unterscheiden. Wahlkampfslogans also als neues „Opium fürs Volk“?
Fundamentalismus der Moderne?!
Wo aber diese eher aufs Gemüt und Gemütliche als auf den wachen Verstand aller Bürger und Bürgerinnen setzt, die doch schon lange vor dem Gesetz gleich sein sollen, da macht sich eine Haltung (?) breit, die in ihrem Kern nicht mehr wirklich von dem Fundamentalismus entfernt zu sein scheint, von dem sie sich öffentlich gerne so angewidert differenziert. Das ist eine Haltung, die von antiglobaler, vielleicht sogar antieuropäischer Monopolkultur ebenso ausgeht wie von einer ökologischen Ideologie, der sich jeder ökonomische Sachverstand beugen muss. Und die eben darum Ideologie zu nennen ist, weil es hier in erster Linie und durch die humanistische Hintertür erneut um Selbst-Befriedigung, um einen durch und durch anthropozentrischen, auch andropozentrischen Lustgewinn des Einzelnen geht. Und das geht eben nur, wie die Geschichte immer wieder lehrt und der gesunde Menschenverstand sofort einsieht, nur auf Kosten anderer, auf Kosten der gerechten Verteilung von Mitteln und Ressourcen und zutiefst auf Kosten gerade der viel beschworenen und angeblich auch geschützten Natur. Diese Dialektik der als natur- und menschenfreundlich sich gerierenden Eigenliebe jedenfalls wird uns nicht den Weg in eine Zukunft weisen, der aus der jetzigen Krise und auch aus den vielen vergangenen Krisen als Chance/n gelernt hat.
Vom Spießbürger zum Weltbürger
Wollen wir also in dieser gut spießbürgerlichen Gemütlichkeit uns einrichten und weiter Wasser predigen und Wein saufen? Wollen wir mit einer ökologischen Idee, die nur aufgeht, wenn die Ungleichverteilung wächst, ernsthaft die Welt retten oder auch nur, an einer wachsenden globalen Gerechtigkeit mitwirken? Wollen wir die intakte Natur – die es ohnehin und spätestens seit dem Zeitalter der Industrialisierung nicht mehr gibt – für uns und unsere Kinder retten, damit wir wieder Freude haben können an ihr und am Leben? Idylle statt Weltbürgertum? Ich gebe zu, auch ich lese GEO gerne und auch ich bin fasziniert vom Walden Pont und Emersons bzw. Thoreaus Versuchen, dort ein Leben zurück zur Natur zu führen. Aber ich kann und will nicht den Unterschied zwischen Traum und praktisch Machbaren vergessen. Und eben auch nicht, dass Emerson aus einer Pfarrfamilie stammte und Thoreau aus einer Fabrikantenfamilie. Die Hütte, in der letzterer lebte, lag durchaus in einiger Nähe zu seiner Heimatstadt.
Verantwortet vorläufig – oder: Vom mühsamen liberalen Weg
Das ist also das eine: der Traum von einem genügsamen Leben im Einklang mit möglichst intakter Natur.
Und das andere sind die auf eine global bzw. gesamtgesellschaftlich funktionierende Gemeinschaft hin ausgerichteten nötigen und nicht immer erfreulichen Überlegungen und Anstrengungen, die Menschen und die Politik unternehmen müssen, um den Teil dieses Traumes zu verwirklichen, den vielleicht zwar nicht alle teilen, aber um derer willen, die ihn haben, zu ermöglichen versuchen. Weder darf diese Umsetzung auf Kosten der Schwächeren und Ärmeren noch auf Kosten von weltbürgerlicher Zivilisation und Kultur bzw. unterschiedlichster Kulturen dieser Welt gehen.
Ökologie und Ökonomie – viel mehr als ein Widerspruch
Und da beginnt dann die Idee des Liberalismus: einen gerechten und die Freiheitsrechte einzelner Menschen und ihrer Interessen und Bedürfnisse berücksichtigenden gemeinsamen Weg zu finden. Keine Freiheit auf Kosten der anderen. Und mehr als bisher geschehen sicherlich zu ergänzen: keine Freiheit ohne Rücksicht auf die Natur und klugen und Generationen überdauernden Umgang mit ihren Ressourcen. Das könnte zu einer liberalen Kapitalismuskritik führen genauso wie zu einer berechtigten Kritik des Liberalismus an der romantisierten und allzu bürgerlichen Idee vom „Zurück zur Natur“ bzw. vom „Naturschutz“. Mit anderen Worten also zu einem liberalen Diskurs von Ökologie und Ökonomie zum Wohle aller, aller Menschen und Hand in Hand damit auch Tiere und Pflanzen. Zu einem liberalen Verständnis von Umwelt als Mitwelt mithin und einem Wirtschaftsplan und einer Politik, die in „verantworteter Vorläufigkeit“ einen Ausgleich zwischen den drängenden Fragen ökonomischer Gerechtigkeit und ökologischer Klugheit sucht.