Liberale Ethik umfasst unterschiedliche systematische Versuche, mit freiheitlichen Prinzipien und Prioritäten ein vernünftiges Urteil darüber zu begründen, was zu tun gut oder richtig oder zumindest geboten ist. Als politische Ethik ist liberale Ethik der Quellcode und die Rechtfertigung liberaler Politik, kein praxisferner Traum.
Kategorien liberaler Ethik
Egal ob in der Pflicht- und Tugendethik Immanuel Kants, im britischen Utilitarismus, in der Vertragstheorie von John Rawls, im kritischen Rationalismus von Karl Popper, der Theorie kultureller Evolution von Friedrich August von Hayek, im Lebenschancen-Ansatz von Ralf Dahrendorf oder Amartya Sen, im Ethos weltbürgerlich verantworteter Freiheit von Karl Christian Friedrich Krause und Claus Dierksmeier, in der Diskursethik von Jürgen Habermas oder der liberalen Tugendethik von William Galston: Die Grundmotive des Liberalismus bestimmen auch die Grundelemente der liberalen Ethik.
- An erster Stelle steht das Primat der Freiheit des Einzelnen. Sie ist das Fundament eines in Würde selbstbestimmten Lebens und gilt universal für jeden Menschen.
- Dieser freiheitliche Zweck heiligt niemals unfreiheitliche Mittel, und der Selbstzweckformel von Kants kategorischem Imperativ zufolge gilt für Liberale, dass man Mitmenschen niemals nur als Mittel zum Zweck gebrauchen darf. So ist die Freiheit des Einzelnen zugleich Grund und Grenze allen liberalen Handelns.
Die daraus abgeleitete liberale Ethik ist ein schlankes, aber starkes und weitreichendes (weltbürgerliches) Programm. Schlank, weil es um die dauerhafte Sicherung der Freiheit des Einzelnen geht, und stark, weil sich die liberalen Ideale empirisch bewährt und geschichtliche Erfolge erzielt haben. Und weitreichend, indem sie sich auf alle einzelnen Menschen jederzeit und überall verpflichtet. Weil sie Ideale nicht an der Reinheit des Herzens, sondern an ihren Folgen für die Freiheit von Anderen misst, ist eine liberale Ethik eine Verantwortungsethik.
Liberalismus ist deshalb ein von Idealen beseelter Realismus:
- Wir wissen, dass die vernünftig selbstbestimmte Individualität zum gesellschaftlichen Pluralismus der nicht unbedingt vereinbaren Vorstellungen des guten Lebens führt – und damit auch zu Konflikten.
- Aber über Menschen- und Bürgerrechte schützt die liberale Verfassung die individuelle Freiheit und ordnet die Dynamiken und Konflikte gesellschaftlicher Vielfalt durch die Herrschaft des Rechts.
- Die liberale Rechtsordnung gewährleistet einen fairen Wettbewerb am Markt (verstanden als Entdeckungsverfahren) und eine vernünftige, argumentative Verständigung in der Demokratie (verstanden als lernendes System).
- Beides sind offene Such-, Lern- und Innovationsprozesse von Versuch und Irrtum, Kritik und Korrektur.
- Eine Politik der Lebenschancen (und erst recht: der Überlebenschancen) ermöglicht jedem Menschen Teilhabe am Markt und Teilnahme in der Demokratie, um tatsächlich moralisch, ökonomisch und politisch selbstbestimmt leben zu können.
- Und das liberale Ethos besteht gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern auf Vernunft, Verantwortung und Fairness beim Gebrauch der eigenen Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft, um auch die Freiheit der Anderen zu gewährleisten; was die Einübung liberaler Tugenden wie etwa der Toleranz und der Dialogfähigkeit voraussetzt.
- Bessere Freiheiten für mehr Menschen sind der Zweck des Fortschritts und ein Gebot der Gerechtigkeit, gerade auch der Generationengerechtigkeit.
Selbstkorrekturen verantworteter Freiheit als Treiber des Fortschritts
Liberale Ethik ist maßvoll, weil sie niemandem Vorschriften für das eigene Leben macht. Aber sie ist auch anspruchsvoll, weil sie jede Generation in die Pflicht nimmt, dafür zu sorgen, dass der riskante, mit Konflikten behaftete Balanceakt der Freiheit der Vielen am Ende zum Treiber des Fortschritts für Alle wird.
Schon Immanuel Kant hatte in den Konflikten der „ungeselligen Geselligkeit“ der Menschen die Notwendigkeit der rechtlichen Ordnung und die Chancen des geschichtlichen Fortschritts entdeckt. Der zu früh verstorbene Soziologe Ulrich Beck hat Kant mit seinem Modell der Risikogesellschaft modernisiert: Weil freiheitliches Handeln oft auch unerwünschte, grenzüberschreitende und am Ende gar freiheitsfeindliche Folgen haben kann, gebietet es die grenzüberschreitende Kooperation bei der Korrektur negativer Konsequenzen.
Weil wir das Primat der Freiheit für jeden Menschen dauerhaft garantieren wollen, ist es für uns Liberale ein steter ethischer Auftrag und zentrale politische Aufgabe, die negativen Folgen unseres Handelns zu korrigieren. Der vor Mitwelt, Umwelt und Nachwelt verantwortete Gebrauch der Freiheit – die kreativ „verantwortete Freiheit“ – wird zum Treiber des Fortschritts. Er vollzieht sich im Dialog als dem Austausch freier und gleichberechtiger Menschen, die voneinander lernen. Dialogische Kritik wird zur Voraussetzung für Kreativität und Korrektur, für Innovation und Transformation, kurz: für verantworteten Fortschritt.
Zum Beispiel, dringend, in Klimafragen. In dieser Hinsicht ist Demokratie praktizierte Ethik – und als lernende Demokratie ist die liberale Demokratie die politische Praxis verantworteter Freiheit:
Das bürgerschaftliche, republikanische Gespräch: Das ist die gemeinsame Verständigung und Beratung darüber, was für uns gemeinsam gut, richtig und wünschenswert ist. Also: Demokratie als Lernprozess, in der wir Kritik, kreative Imagination und Korrektur durchsprechen; die Praxis liberaler Ethik als Lern-Prozess; also zugleich nachhaltige Entwicklung als Such-, Lern und Gestaltungsprozess. Oder praktische Philosophie als organisierter Dialog. Jedenfalls: Liberale Demokratie als Lebensform des Lernens.
Siehe: Was heißt: „Die liberale Demokratie ist eine lernende Demokratie?“
5 Antworten auf “Grundelemente einer liberalen Ethik”