Lebenschancen als Motor einer Politik der Freiheit.

Ralf Dahrendorfs Konzeption einer ungesellig-geselligen Bürgergesellschaft

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Eine Politik der Freiheit bedeutet, die größten Lebenschancen der größten Zahl zu garantieren. Dafür benötigt man eine Kultur der Solidarität und Zusammengehörigkeit. Lebenschancen haben nur dann Sinn, wenn die Optionen eingebettet bleiben in die Koordinaten der Solidarität, der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Wenn die Gesellschaft zerfällt und Anomie einsetzt, werden alle Wahlmöglichkeiten zunichte“ (Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, Seite 148)

Lebenschancen sind zunächst Wahlchancen, Optionen. Sie verlangen zweierlei, Anrechte auf Teilnahme und ein Angebot von Tätigkeiten und Gütern zur Auswahl (…) Wahlchancen müssen einen Sinn haben. Das ist aber nur der Fall, wenn sie eingebettet sind in gewisse Wertvorstellungen, die Maßstäbe liefern. Hier liegt die große und bedrohliche Schwäche einer postmodernen Haltung des anything goes, also der grundsätzlichen Beliebigkeit aller Optionen“ (Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, Seite 44.45).

Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann“ (Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Seite 174)

I.

In diesen Zitaten sind wesentliche Eckpunkte genannt, die das Denken des Soziologen, Sozialphilosophen, Publizisten und öffentlichen Intellektuellen Ralf Dahrendorf charakterisieren und beschreiben: Lebenschancen, Optionen (Wahlmöglichkeiten), Ligaturen (Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, kulturelle und emotionale Bindungen), soziale Konflikte als Chancen. Hinzuzufügen ist der Begriff der Bürgergesellschaft.

Dahrendorfs Denken hat weit über den engeren akademischen Kreis vor und nach der Wende und der Wiedervereinigung den politischen Diskurs in Deutschland mitgeprägt. Er gilt als „Vordenker des Liberalismus“ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, der vor die Wahl zwischen Freiheit und Gleichheit gestellt, immer die Freiheit gewählt hätte:

»Es gibt Gründe für Ungleichheit. Ich glaube, dass eine Gesellschaft, die die Ungleichheit erlaubt, eine Gesellschaft, die die Ungleichheit innerhalb der Grenzen der staatsbürgerlichen Rechte geradezu fördert, zugleich eine Gesellschaft ist, die sich offen hält für zukünftige Möglichkeiten, und eine Gesellschaft, die etwas anbietet, was eines der unbezahlbaren Güter gesellschaftlicher Organisation ist, nämlich Hoffnung. Hoffnung auf zukünftige Möglichkeiten.« (Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur Soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961; in: Samuel Salzborn, Hrsg., Klassiker der Sozialwissenschaften. 100 Schlüsselwerke im Porträt, Wiesbaden 2014, Seite 198)

Freiheit zuerst – das erinnert an John Stuart Mill: Freiheit ist apriori gegeben; sie ist eine Präsumtion, d.h. eine (notwendige) Voraussetzung – die Beweislast tragen immer die, die die Freiheit verbieten wollen.

Er galt als ein Denker, der immer wieder aktiv in die Politik eingriff und sich nicht scheute, ein „public intellectual“ zu sein: Ein Mensch, der immer wieder aktiv in die Debatten der Gegenwart sich einmischte, um ihnen mit klärenden Worten entscheidende Richtungen zu weisen.

Nicht Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, die einen erkennbaren pessimistischen kultur- und zivilisationskritischen Cantus Firmus vernehmen lässt und – zweifelsohne in ihrem Entstehen dem zeitgeschichtlichen Kontext des Faschismus und Totalitarismus geschuldet ist – Rationalität in Unvernunft und Irrationalität umschlagen sieht, Fortschritt zu Rückschritt wird und die Aufklärung entgegen ihrem Anliegen der „Entzauberung der Welt“ selbst zur Mythologie wird –

Nicht die „Dialektik der Aufklärung“ war für Dahrendorf die Blaupause seines Denkens, sondern die „Dialektik der liberalen Moderne“, die zwei Seiten menschlicher Vergesellschaftung zusammenführt und integriert: Stabilität und der Prozess des Wandels. Wesentlich hierbei ist, dass Wandel durch soziale Konflikte geschieht:

„Im Konflikt liegt der schöpferische Kern aller Gesellschaften und die Chance der Freiheit – doch zugleich die Herausforderung zur rationalen Bewältigung und Kontrolle gesellschaftlicher Dinge“ (Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zu Dienstklassengesellschaft, München 1972, Seite 47).

Dahrendorf ist hier ganz in der Nachfolge Immanuels Kants. In dessen Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) beschreibt Kant den Antagonismus von sozialen und antisozialen Trieben im Menschen. Der Mensch, so Kant, ist das „gesellig-ungesellige Wesen“. Von dieser Charakterisierung ausgehend ergibt sich für Kant die Frage, ob und inwieweit der von Egoismus, Bosheit, Widersprüchen etc. gekennzeichnete Mensch sich zu einer „zweckvollen Naturabsicht“ entwickeln kann bzw. sich mit dieser vereinigen kann.

Jedoch ist dieser Antagonismus nicht zwingend ein Widerspruch: er weist Chancen auf, Fortschritt zu erzielen hin zu einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft – und eines weltbürgerlichen Zustandes, der zum ewigen Frieden zwischen Menschen und Nationen führt (vgl. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd VI; hersg. Von W. Weischedel, Darmstadt 1983, Seite 37, Vierter Satz; Seite 39, Fünfter Satz; Seite 45, Achter Satz).

II.

Der späte Dahrendorf, Aufklärer und Kantianer und immer der „tätigen Freiheit“ verpflichtet, prognostizierte bereits zur Jahrtausendwende „Krisen der Demokratie“: das Aufkommens autoritärer, antidemokratischer Kräfte und eine Entdemokratisierung, die mit der Globalisierung einhergehe.

Angesichts dieser Gefährdungen und Veränderungen, die für ihn geradezu Züge einer Post-Demokratie aufweisen, war er davon überzeugt, dass die konstitutionellen Grundlagen der Demokratie neu überdacht werden müssen. Und dies auch und gerade im Hinblick auf die damit einhergehende Gefährdung der liberalen Ordnung, die auf den beiden Pfeilern Demokratie und Rechtsstaat gründet (siehe: Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch. München 2003, Seite 8f.)

Stichwort Globalisierung: Sie kann nicht nur wirtschaftlich als Zusammenwachsen weltweiter Märkte gedacht werden. Die kulturellen, politischen, ethischen (und ethnischen) und ökologischen Probleme, die mit der Globalisierung aufkommen, werden in seinen Augen zu wenig bedacht – Mit anderen Worten könnte auch gesagt werden, die Globalisierung benötigt einen sie über das Wirtschaftliche hinaus weisenden größeren Sinn.

Man kann die Globalisierung als Zeit des Wandels und der Auflösung überkommener und verkrusteter – Lebenschancen verhindernder – gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Strukturen verstehen und somit als Beitrag zur Modernisierung (demokratisch-rechtsstaatlich) rückständiger Gesellschaften und Staaten: Die Globalisierung als Transformationsprozess von überlieferten traditionellen Herrschaftsformen zu Gesellschaften und Staaten, in denen Recht, Gesetz und Rechtsstaatlichkeit herrschen. Dahrendorfs Lebenschancen-Konzept dürfte hier im Hintergrund als Pate stehen.

Dem Prozess des Wandels, der Ermöglichung von Freiheit, Optionen (Wahlmöglichkeiten) und neuen Lebenschancen steht auch gleichzeitig die Bedrohung dieses Wandels zur Seite: Freiheit kann zur „Anomie“, zum Zerfall aller Regeln werden, zu einer normlosen, damit auch „haltlosen Welt“ entarten:

Am Beispiel der Globalisierung verdeutlicht er die lauernde Gefahr, dass Gesellschaften Formen der „Anomie“, des Zerfalles von Recht und Ordnung „sowohl im eigenen Land als auch weltweit“ anzunehmen drohen.

Die Globalisierung hat ein janusköpfiges Gesicht: sie stellt eine Chance zu mehr demokratischer und rechtsstaatlicher Teilhabe für immer mehr Menschen dar, damit zu mehr Lebenschancen für immer mehr Menschen und leistet damit einen Beitrag für eine „Politik der Freiheit“ (Siehe: Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, Seite 30-56).

Andererseits geht mit diesen „Chancenmöglichkeiten“ auch eine Gefährdung der Globalisierung einher: sie läuft Gefahr, eine „haltlose Welt“ zu werden, die er in einer zunehmenden Entdemokratisierung sieht.

Dahrendorfs Globalisierungskritik steht in enger Verbindung mit seiner Vorstellung von Fortschritt: dieser erschöpft sich nicht in der Entfaltung des Marktes allein, sondern bemisst sich darin, inwieweit er (und damit die Globalisierung) zur Ausweitung menschlicher Freiheit beiträgt. Dennoch: Er bleibt mit Kant optimistisch:

Es gibt (…) den Weltgeist nicht, der die Geschichte unwiderstehlich zum einen oder anderen Ende führt. Wir Menschen sind es, die der Geschichte Sinn geben; wir sind es auch, die Lebenschancen erweitern oder zerstören (…) Wir können uns Ziele setzen und diesen mit einiger Mühe näher kommen.

Ein solches Ziel nennt Kant ‚die allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft‘. In ihr ist die ‚wilde Freiheit‘ à la Hobbes, also der Krieg aller gegen alle, durch die ‚gerechte bürgerliche Verfassung‘ gebändigt und damit die ‚größte Freiheit‘, wie sie nur in Gesellschaft verwirklicht werden kann, zumindest möglich geworden“ (Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, Seite 132.133).

Damit einher geht die klare Absage an jedwede utopistisch-paradiesische Zukunft und ein Plädoyer für die liberale Moderne:

Unser Handeln soll geleitet werden von dem Willen, die Weltbürgergesellschaft zu befördern (…) Die Freiheit ist das höchste Ziel der vita activa, des öffentlichen Tuns. Sie ist unteilbar. Sie bleibt daher unvollkommen, solange sie Privileg ist (…) Die liberale Ordnung ist aber die Ordnung für alle Bürger. Erst wenn diese hergestellt ist, kann man von einer freien Gesellschaft sprechen“ (Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, Seite 136.137).

III.

Die Politik der Freiheit ist klar umrissen: die größten Lebenschancen der größten Zahl zu garantieren.

Lebenschancen sind Wahlchancen, Optionen, die an Anrechte gebunden sind. Anrechte sind individuelle Zugangsrechte, sie sind „sozial definierte Zugangsmittel“ bzw. „Eintrittskarten“, die es ermöglichen, an garantierten Rechten zu partizipieren. So z.B. an den Bürgerrechten, die jedem Menschen garantiert werden sollen. Anrechte schaffen jedoch auch Ungleichheiten, denn sie sind kein Freifahrtschein für die Einlösung von Forderungen und Wünschen. Optionen und Wahlchancen erfordern Anrechte; sie sind jedoch darüber hinaus Möglichkeiten des individuellen Wachstums, der Realisierung von Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen.

Anrechte und Optionen, Wahlchancen. Die Dahrendorfsche Terminologie und der Zusammenhang der Begriffe erklärt sich aus dem Kontext seiner Konflikttheorie: Soziale Ungleichheit ist eine Grundgegebenheit sozialer Systeme, woraus sich soziale Konflikte ergeben, die allerdings nicht aufzulösen, aber zu regeln sind. Soziales Lernen ist Konflikt und Konflikt ist Wandel, in dem ein schöpferischer Kern und damit die Chance der Freiheit liegt.

Die Regelung sozialer Konflikte ist das entscheidende Mittel der Verminderung der Gewaltsamkeit nahezu aller Arten von Konflikten. Konflikte verschwinden durch ihre Regelung nicht; sie werden nicht einmal notwendig weniger intensiv; in dem Maße aber, in dem es gelingt, sie zu regeln, werden sie kontrollierbar und wird ihre schöpferische Kraft in den Dienst einer allmählichen Entwicklung sozialer Strukturen gestellt“ (Dahrendorf, Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. München 1972, Seite 41).

Soziale Konflikte entstehen u.a. dadurch, dass Anrechte bzw. Privilegien (Macht, Eigentum, Wissen) ungleich verteilt sind und zu Optionen Weniger werden. Eine Politik der Freiheit erfordert allerdings, dass Anrechte nicht Optionen Weniger sind, sondern zu „mehr Lebenschancen für immer mehr Menschen werden“ – seine Forderung „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) ist hierfür ein beredtes Beispiel.

Dass Anrechte zu Optionen und Lebenschancen „für immer mehr Menschen“ (und nicht nur für die Erfolgreichen) werden, ist der liberale Kompass, der Dahrendorf bis ins hohe Alter leitet:

Der oberste Zweck ist Ausweitung der Lebenschancen der Erfolgreichen auf alle anderen. Freiheit darf kein Privileg werden, und das heißt, dass es ein Gebot der Politik der Freiheit ist, mehr Menschen, prinzipiell allen Menschen die Anrechte und das Angebot zu verschaffen, die wir selber schon genießen“ (Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, München 2003, Seite 27).

IV.

Optionen, (Wahl-) Möglichkeiten, bleiben leer und uncodiert, mithin beliebig, wenn ihnen der „Sinn“ fehlt, der nur durch die Rückkoppelung an Ligaturen zu echten Wahlmöglichkeiten und damit zu Lebenschancen werden.

Ligaturen sind kulturelle und emotionale Bindungen, die Menschen in einer modernen multioptionalen Welt die Möglichkeit geben, ihren Weg in der Welt der Optionen zu finden. Sie sind vergleichbar mit einem Gefäß, das den Optionen und Wahlmöglichkeiten Halt und Form gibt und ohne die ein gesellschaftliches Leben nicht möglich ist.

Allerdings: Optionen werden nur dann zu Wahl-Möglichkeiten und schaffen Zugehörigkeit und Orientierung, wenn Menschen zwischen Alternativen entscheiden können, das heißt: Handlungsmöglichkeiten frei bestimmen können. Das erinnert an die aristotelische „Prohairesis“, die Wahlentscheidung oder auch Wahlfreiheit. Aristoteles entwickelt in der „Nikomachische Ethik“ den Zusammenhang von Handeln und Entscheiden: Eine Handlung ist ein Tun, dem eine Entscheidung vorausgehen muss. In der Entscheidung für und gegen eine andere Wahlmöglichkeit verhält sich die handelnde Person zielgerichtet. Das angestrebte „Ziel“ jeder Handlung ist eine „gute Handlung“, die die „Eudaimonia“, die „Glückseligkeit“ im Blick hat. Glückselig wird ein Mensch in seinem Handeln, wenn dieses sein Können, seine Anlagen, seine Fähigkeiten in Relation und Proportion an sein Menschsein und an die gegebenen Situationen der Handlung frei entfalten kann:

Ligaturen sind tiefe Bindungen, deren Vorhandensein den Wahlchancen Sinn gibt. Sie sind gleichsam der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Man kann sie auch als die subjektive Innenseite der Normen beschreiben, die soziale Strukturen garantieren“ (Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, München 2003, Seite 45).

Optionen sind (…) Alternativen des Handelns (…)“. Ligaturen stiften Bezüge und damit ‚Fundamente des Handelns’. „Lebenschancen sind Gelegenheiten für individuelles Handeln, die sich aus der Wechselbeziehung von Optionen und Ligaturen ergeben“ (Dahrendorf, Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, München , Seite 50.51.)

V.

Dahrendorfs Konzeption der Lebenschancen, die der Nukleus jeder Politik der Freiheit ist und den konstruktiven und produktiven Wert des gesellschaftlichen Konfliktes und damit Kants „gesellig-ungeselligen“ Menschen im Blick hat, gestaltet sich in der Bürgergesellschaft, die eine „allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft“ (Kant) darstellt.

Bürgergesellschaft. Damit ist zum einen eine Gemeinschaft gemeint, in der Rechtsgleichheit herrscht, die die Bürgergesellschaft und ihre Anrechte auf Zugehörigkeit konstituiert. Damit wird sie andererseits zum „Medium der Freiheit“, oder auch der „Ordnung der Vielfalt“, in der das „schöpferische Chaos der Vielen“ – Dahrendorf spricht hier von der Vielfalt der bürgerschaftlichen Elemente: Organisationen und Institutionen – vor dem Zugriff des Staates geschützt ist. Sie ist – wie der späte Dahrendorf sie auch charakterisiert – die wichtigste soziale Bindung (Ligatur) in der modernen Wirtschaftsgesellschaft.

Diese bürgerschaftlichen Elemente sind autonom und damit unabhängig von einem „Machtzentrum“.

Der innere Kern, das Ethos der Bürgergesellschaft und somit das Regulativ des „gesellig-ungeselligen“ und konfliktfreudigen Geschehens in der Bürgergesellschaft sind gemeinsame Wertüberzeugungen – mit einem Wort: der Bürgersinn:

Der Bürger in diesem Sinne fragt nicht, was andere, insbesondere der Staat, für ihn tun können, sondern tut selbst etwas. Bürgerstolz, Zivilcourage – dies sind die Tugenden der Mitglieder von Bürgergesellschaften“.

VI.

Schöne neue Welt, Utopia nach dem Scheitern der politischen Utopien? Ein liberales „Bullerbü“? Unzeitgemäße Betrachtungen in Zeiten von Klimawandel und -Krise und ihren apokalyptischen Impulsen, in Zeiten auch der multiplen geopolitischen Gefährdungen und Bedrohungen der freiheitlichen Demokratie?

Von Dahrendorf lernen heißt: von Krisen lernen. Krisen als konstruktive Konflikte verstehen, die das Potential haben, Lebenschancen in einer stetig sich verändernden und gefährdeten Welt zu ermöglichen. Karl Popper fragte in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“: Hat die Weltgeschichte einen Sinn? Und er beantwortet diese suggestiv klingende Frage: Nein. Sie hat keinen Sinn – außer wir geben ihr Sinn.

Dahrendorfs Lebenschancen, Optionen, Ligaturen und die Bürgergesellschaft sind sinngebende Antworten auf eine doch irgendwie sinnlos erscheinende Welt, die Gefahr läuft, eine „Welt ohne Halt“ zu werden und in der die Freiheit zur „Anomie“, der Auflösung vertrauter Strukturen, zu mutieren droht.

Sein Lebenschancen-Konzept für eine Politik der Freiheit, die die größten Lebenschancen der größten Zahl zu garantieren bemüht ist, ist mit einem Echolot zu vergleichen: So wie dieses nautische Instrument Wassertiefen misst, erfasst das Dahrendorfsche Konzept die in gesellschaftlichen Krisen und Konflikten liegenden Potentiale – und Chancen und zeigt damit seine bleibende Aktualität:

Gesellschaftliche Entwicklung hat nicht normativ einem utopischen Ziel zuzustreben, sondern stellt einen iterativen Suchprozess dar, in dem zahlreiche Regelungswege einer Abwägung unterzogen werden, um so die individuellen Lebenschancen in der Gesellschaft zu maximieren“ (Olaf Kühne, Zur Aktualität von Ralf Dahrendorf. Einführung in sein Werk. Wiesbaden 2017, Seite 126).

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