Liberalismus: Ja zu moralischen Gefühlen – Nein zum Moralismus

Nie zuvor habe der Liberalismus eine „so niederträchtige Konnotation angenommen wie in den letzten Jahren. Noch nie war das liberale Denken, vor allem in unserem Land, so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt,“ bescheinigte der Philosoph Peter Sloterdijk den Liberalen im Jahr 2011”. Eine intellektuelle Regeneration des Liberalismus müsse von der Erkenntnis ausgehen, „dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern.“ Vielmehr: „Sie tragen ebenso das Potential zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich.“ Die „wahren Liberalen“ würden sich am Menschen als offenem Wesen mit „Möglichkeitssinn“ orientieren.

Drei Bücher der vergangenen Jahre rufen uns in Erinnerung, dass der Liberalismus eigentlich ein großes moralisches Abenteuer ist. Die Historikerin Helena Rosenblatt schreibt:

Im Grunde waren die meisten Liberalen Moralisten. Ihr Liberalismus hatte nichts mit dem atomistischen Individualismus zu tun, von dem wir heute hören. Sie sprachen nie über Rechte, ohne Pflichten zu betonen. Die meisten Liberalen glaubten, dass Menschen Rechte haben, weil sie Pflichten haben, und die meisten interessierten sich sehr für Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie lehnten stets die Idee ab, dass eine lebensfähige Gemeinschaft allein auf der Grundlage von Eigennutz aufgebaut werden könnte. Ad infinitum warnten sie vor den Gefahren des Egoismus. Liberale traten unaufhörlich für Großzügigkeit, moralische Redlichkeit und bürgerliche Werte ein. Das soll natürlich nicht heißen, dass sie immer das praktizierten, was sie predigten oder ihren Werten gerecht wurden.

Helena Rosenblatt (2018): The Lost History of Liberalism – eigene Übersetzung

Der liberale Essayist Adam Gopnik schreibt:

Dass die Suche nach radikalen Veränderungen mit menschlichen Mitteln weit davon entfernt ist, eine trockene, atomisierende und emotionslose Doktrin hervorzubringen, in der alle sozialen Beziehungen auf den Status eines Vertrags reduziert werden, das macht den Liberalismus zu einem der großen moralischen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Weit davon entfernt, einfältig materialistisch, bloß unanständig und gewinnorientiert zu sein, ist der Aufstieg und Triumph liberaler Ideen die herausragendste spirituelle Episode in der gesamten Menschheitsgeschichte. Es gab wenig Vergleichbares in der Menschheitsgeschichte zuvor – die Alten stellten sich zwar eine Welt ohne Göttlichkeit vor, aber nichts von der moralischen Größe der Emanzipation von Sklaven und Frauen von der Grausamkeit. Liberalismus ist eine Tatsachen-zuerst-Philosophie mit einer Gefühls-zuerst-Geschichte.

Adam Gopnik (2019): A Thousand Small Sanities: The Moral Adventure of Liberalism – eigene Übersetzung.

Und der Philosoph Claus Dierksmeier stellt fest:

Während bislang meist nur moralische Idealisten dazu aufriefen, unsere Freiheit nach streng universalisierbaren Maximen zu gebrauchen – so, als ob wir »der ganzen Welt« Rechenschaft schuldeten –, erkennen zunehmend auch selbsterklärte Realisten genau dies als Zeichen der Zeit: dass unser aufgeklärtes Selbstinteresse immer öfter mit den Geboten eines moralischen Kosmopolitismus zusammenfällt. Verwundert bemerkt der hartgesottene Empiriker, dass idealistische Ethik sich zunehmend als realistische Methodik erweist. In Politik und Wirtschaft, Ökologie und Kultur stellt sich ein ums andere Mal heraus, dass Freiheit dauerhaft nur um den Preis ihres kosmopolitisch verantworteten Gebrauchs zu haben ist. Ethik wird zusehends als Nachhaltigkeitsstrategie begriffen.

Claus Dierksmeier (2016): Qualitative Freiheit. Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung, S. 18

Auch liberale Realisten dürften es demnach schon wissen: Keine Freiheit ohne Moral, Ethik und Haltung. Gegenstand liberaler Ethik sind freiheitliche Moralvorstellungen, die den praktischen Gebrauch unserer Freiheit miteinander und füreinander regulieren, und zwar

  • auf individueller Ebene in Formen des Gewissens oder der Tugenden;
  • auf gemeinschaftlicher Ebene über Sitten und Konventionen;
  • und auf gesellschaftlicher Ebene als Leitmotive freiheitlicher Gesetzgebung.

Was heißt das, und wie spielen sie zusammen? Einer (I) Einführung in Grundbegriffe (Werten, Normen, Tugenden) folgt ein Blick auf die (II) moralpsychologischen Grundlagen liberaler Politik, darunter den von Marco Buschmann begründeten Grundlagen des FDP-Leitbilds und ein (III) Blick auf die Demokratie als ethische Praxis. Abschließend (IV) wird Moralismus kritisiert. (Die Argumentation enthält ungekennzeichnete Auszügen aus meinem Aufsatz „Wertekompetenz“).

I. Zum Wechselspiel von Werten, Normen und Tugenden

Werte entstehen aus Bewertungen, welche Art von (situativen oder gesellschaftlichen) Verhältnissen wir gut oder richtig finden. Noch bevor wir zum Beispiel wissen, was Gerechtigkeit ist, erkennen wir ungerechte Verhältnisse. Im Verlauf der Zeit lernen wir dann zu erkennen, was zu gerechten Verhältnissen gehört. Oder zum Beispiel zu freiheitlichen, gewaltlosen, wahrhaftigen, partnerschaftlichen oder nachhaltigen Verhältnissen. Die vielen Bewertungen verdichten sich dann zu Werten. Sie sind also, um es mit dem Soziologen Hans Joas zu sagen, verstetigte, verdichtete und „emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte“. Werte sind also mehr als spontane Wünsche (etwa nach mehr Schokolade) – sie sind Wünsche (desires), die nach (vernünftiger ethischer) Abwägung aller Implikationen und Konsequenzen tatsächlich des Wünschens wert (desirable) befunden werden (etwa der Wert maßvollen Genusses).

Werte binden und befreien

Werte sind, sagt Hans Joas, „attraktiv“: Sie ziehen uns an, wir wollen sie verwirklichen. Zwar binden sie uns, nämlich an das Gute und Richtige. Aber sie befreien uns andererseits auch: Wir sind „ganz bei uns selbst“, „mit uns im Reinen“, wenn wir nach unseren Werten handeln, so wie im Lutherwort „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ In dem Maße, in dem Werte uns selbstverständlich werden, sozusagen zur zweiten Natur, gehen sie ein in unsere Identität und „organisieren“ unser Handeln. Es wird uns dann selbstverständlich, diese Werte anstrengungslos und kreativ zu verwirklichen. Wir handeln „virtuos“, denn die verkörperten Werte sind zu „virtues“, zu Tugenden geworden. So erweitern Werte unseren Handlungsradius und ermöglichen es uns, über uns hinaus zu wachsen.

Normen binden und schränken ein

Ganz anders Normen: Normen sind fremdgesetzte Erwartungen, denen wir entsprechen sollen. Sie kommen in Formen von Pflichten oder Regeln, formal als Gesetz oder informell als Sitte, Konvention oder Brauch, die ein erwünschtes Verhalten vorschreiben. Bestimmte Ziele und Mittel des Handelns schließen sie als moralisch oder rechtlich unzulässig aus. In diesem Sinne sind sie restriktiv und schränken unseren Handlungsradius ein.

Dynamisches Wechselspiel zwischen Werten und Normen

Aber sind die „Werte“ des Grundgesetzes dann nicht eigentlich „Normen“? Ideale Vorstellungen des mit guten Gründen Wünschenswerten wie die Menschenwürde, die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Meinungsfreiheit sind in der Tat beides: Werte und Normen. Werte, weil wir ihre Verwirklichung anstreben; und Normen, indem wir aus ihnen Verhaltensregeln ableiten, die der Staat (oder der Gruppendruck) durchsetzt. Wenn uns die Erfahrung zeigt, dass die Verhaltensregeln unseren sich wandelnden Werten summa summarum nicht mehr entsprechen, können wir sie korrigieren – Beispiel Ehe für alle. Die neuen Normen verändern ihrerseits dann wieder unser individuelles Werteverständnis.

Dynamisches Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft, vermittelt über Tugenden

Welche Werte wir als Individuen für selbstverständlich halten, ist nicht ganz selbstbestimmt, sondern auch das Ergebnis von Sozialisation und Erziehung. Was wir für unsere ureigenen Werte halten, sind zu einem guten Teil die Werte unserer Gemeinschaften und der Zeitgeschichte. Aber natürlich nicht nur. Denn der Verstand erlaubt uns ja, eigene Erfahrungen zu reflektieren und andere Vorstellungen des Wünschenswerten zu entwickeln. Wir können uns von den real existierenden Werten, Normen, Konventionen und Praktiken, also: von der Moral unserer Familien, Milieus und Gemeinschaften befreien und unsere eigene Mitte finden. Das gehört zum Prozess der Individuation und Identitätsbildung.

Mit unserem Beispiel aber verändern wir selbst wiederum die geltenden Normen und gemeinschaftlichen Moralvorstellungen. Das Wechselspiel geht weiter, woraus wir lernen, dass Werte und Normen wünschenswertes Verhalten zwischen Einzelnem und Gemeinschaft vermitteln – eine Einsicht, die traditionell besonders den Tugenden zugeschrieben wurde, aber für alle Werte und Normen gilt.

Was sind Tugenden? Tugendethik zufolge sollen Menschen mit Hilfe ethischer Einsichten ihre natürlichen Anlagen so kultivieren, dass sie in jeder Situation selbstverständlich gut und richtig handeln, was zu persönlicher Glückseligkeit und sozialer Harmonie zugleich führen soll. Von tugendhaften Menschen sagen wir deshalb auch, sie hätten „Haltung“, verkörperten gar ein Ethos (ein wunderbar vielfältiger Begriff, der noch weit mehr als Tugendhaftigkeit meint – mehr am Beispiel hier). Aber im Gegensatz zu den fixierten Tugendkatalogen der Antike tun wir heute gut daran, uns Tugenden nicht als ewige und vollkommene Idealzustände des Menschen vorzustellen. Tugenden sind vielmehr individuell unterschiedlich verkörperte Wertorientierungen, die sich im friedlichen Zusammenleben und kollaborativem Überleben als wünschenswert bewähren – manche grundlegende Werte, das zeigt die Erfahrung, mehr als andere.

Damit die – in Tugenden vermittelten – Wechselspiele zwischen Werten und Normen gelingen, müssen wir besonders das Wechselspiel zwischen ethischer Urteilskraft und moralischen Gefühlen verstehen.

Ethische Urteilskraft: Zur vernünftigen Kritik der Moral

Bei der Selbstbewusstwerdung über die Werte, die für uns wichtiger sind als andere, hilft uns die Ethik. So wie die Biologie die Wissenschaft (logos) des Lebens (bios) ist, so ist die Ethik die Wissenschaft von der Moral. Ethische Traditionen sind Versuche, mit Hilfe des Verstandes die real existierende Moral aufzuarbeiten und vernunftbegründete Maßstäbe für gutes oder richtiges, eben: wünschenswertes Handeln zu finden.

Im Zuge der Aufklärung dominieren in Europa zwei ethische Traditionen bis heute: Von Jeremy Bentham und John Stuart Mill bis zu Peter Singer heute erkennt die Tradition des Utilitarismus den größtmöglichen Nutzen aller als das essentielle Anliegen der Moral. Sie schaut auf die Konsequenzen des Handelns. Die Pflichtethik in der Tradition von Immanuel Kant bis Otfried Höffe heute stellt dagegen das unbedingt – also: stets und vor aller Konsequenz – Erforderliche im Sinne des von griechisch: δέον (deon) „Gesolltem“ in den Vordergrund und heißt deshalb auch deontologische Ethik. Sie findet ihren Audruck in Maximen des Handelns wie dem Kant’schen Kategorischen Imperativ, mit denen wir unsere Handlungsoptionen überprüfen und ethisch verantwortliche Entscheidungen treffen können.

II. Moralische Gefühle: zur moralpsychologische Grundlage von Politik

Zur moralpsychologische Kritik an der Vernunft-Ethik

Ethik kritisiert die Moral; aber heutige Moralpsychologen wie Jonathan Haidt kritisieren auch die Ethik. Zwar hätten Bentham und Kant bewundernswerte und produktive Systematiken vorgeschlagen. Aber beide ethischen Ansätze würden die Bedeutung vernünftiger Urteile für real existierendes verantwortliches Handeln weit überschätzen. Haidts empirische interkulturelle Moralforschung bestätigt dagegen Theorien moralischer Gefühle, wie sie die Schotten David Hume und Adam Smith im 18. Jahrhundert entwickelt hatten – mindestens letzterer unzweifelhaft ein Ahnherr des Liberalismus.

Die Evolution hat Menschen demnach mit moralische Intuitionen und Gefühlen ausgestattet. die im Unterbewusstsein aktiv sind. Wer etwa intuitv die Sorge für Andere der Verletzung Anderer vorziehe, wer ein Ungerechtigkeitsgefühl bei Betrug und Widerstand gegen Unterdrückung, aber auch Respekt für eine soziale Hierarchie empfinde, oder wer Loyalität dem Verrat und Purismus der Verschmutzung vorziehe, der verspüre moralische Intuitionen. Solche Gefühle sind aus Haidts Sicht eine evolutorische Mitgift der menschlichen Fähigkeit, das mit guten Gründen Wünschenswerte zu erkennen. Diese Intuitionen der menschlichen Natur würden je nach (moralischer) Kultur und Individuum unterschiedlich in Form, vernünftiger Vorstellung und Reichweite ausgeprägt, also in Werten und Normen ausgemünzt. Nach dem Stand der Forschung sind diese aber unterschiedlich verteilt.

Ausprägungen liberaler, libertärer und konservativer Moral

Wie diese moralischen Intuitionen verteilt sind, hat Jonathan Haidt mit vielen Kolleginnen und Kollegen weltweit erforscht (mit Updates). Mit Hilfe der politischen Selbsteinschätzung der Befragen unterscheiden Haidt und Kollegen drei typische Cluster: liberale, libertäre und konservative Moral.

Haidt 2017: Darstellung dreier unterschiedlicher moralischer Fundamente

Haidts Modell folgend, dürfen wir als typische moralische Intuitionen von Liberalen in etwa folgende Einstellungen annehmen: Selbstbestimmung vor Fremdbestimmung (zugleich die libertäre Intuition), Mitgefühl mit Leidenden, Fairness durch Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit statt Betrug. Anekdotisch plausibel erscheint zugleich aber auch ein gewisser Respekt vor der Autorität des (mindestens: freiheitlich gesetzten) Rechts (eine Form der „authority vs subversion“-Fundierung).

Den Forschungen von Karen Stenner zu Formen des Konservatismus und des Autoritarismus folgend, können wir zudem annehmen, dass Liberale – im Gegensatz zu autoritär veranlagten Menschen – offen sind für neue Erfahrungen, Vielfalt und Veränderung. Sie respektieren unterschiedliche Lebenseinstellungen und Lebensverhältnisse. Es sollte uns Liberalen also leicht fallen zu respektieren, dass moralische Gefühle in verschiedenen politischen Strömungen ungleich verteilt sind, und dass sie Identitäten und politischen Prioritäten prägen.

Zur moralpsychologischen Grundlage des FDP-Leitbilds nach Marco Buschmann

In seinem unbedingt lesenswerten Buch „Die sterbliche Seele der Freiheit. Zur Verteidigung der liberalen Demokratie“ beschreibt Justizminister Marco Buschmann die moralpsychologischen Grundlagen liberaler Politik, die dem Leitbild der FDP zugrunde liegen (vgl. Blogbeiträge hier, zum Leitbild bei der FDP hier). Damit schließt er an Forschungen von Haidt und Stenner an, die er mehrfach zitiert.

Im „System der vier Schulen der sterblichen Seele“ unterscheidet Buschmann zwei Achsen zwischen „Neophilie“ und „Neophobie“ sowie zwischen „Schwarmorientierung“ und „Individualitätsorientierung“. Also: Manche lieben, Andere Fürchten das Neue. Die Einen finden die Gemeinschaft wichtiger als das Individuum, Andere messen die Gemeinschaft am Umgang mit dem Individuum. Für die FDP nimmt Buschmann einen optimistischen, fortschrittsorientierten Individualismus in Anspruch, der sich in Quadrant I (rechts oben) befindet. Er unterscheidet sich vom „Sozialutopismus“ (Quadrant II), der Patriarchenherrschaft (III) und dem ständischen Konservatismus (IV).

Abbildung aus Buschmann, M. (2020): „Die sterbliche Seele der Freiheit. Zur Verteidigung der liberalen Demokratie“, S. 61.

Klar: „Die Mitglieder der vier Schulen der sterblichen Seele bewerten die meisten Sachverhalte, Herausforderungen und Entscheidungssituationen spontan unterschiedlich“ (S. 107). Anders gesagt: Der Pluralismus moralischer Erwartungen ist gegeben und kann zu Konflikten führen. Das „Kunststück der liberalen Demokratie“ ist es dann nach Buschmann, den Konflikt in Kooperation umzuorganisieren: „Eine gute Staatsverfassung muss die Frage beantworten, wie sie bei all diesen unterschiedlichen Neigungen den inneren Frieden zwischen den vier Schulen der sterblichen Seele bewahrt und ein gedeihliches Zusammenleben ermöglicht. Kurz, sie muss klären, wie Kooperation unter Mitgliedern der verschiedenen Schulen der sterblichen Seele möglich wird.“ Entsprechend konkretisiert, ist das auch die Frage liberaler Verantwortungsethik: Wie gelingt auf Dauer friedliches und freiheitliches Zusammenwirken?

III. Liberale Demokratie als vernünftige ethische Suche nach Lebenschancen

Liberale Demokratie braucht mehr als Tugendethik

Auf der Basis seiner Forschungen spricht sich Haidt für die antike Tradition der Tugendethik aus, die von Aristoteles bis Alasdair McIntyre heute reicht. Das dürfte aus Sicht liberaler Verantwortungsethik ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein sein – vgl. oben. Zu den ethischen Traditionen des Liberalismus zählen wir mit guten Gründen jedenfalls auch die Vertragstheorien von John Locke bis John Rawls, die Pflicht- und Tugendethik Immanuel Kants, den kritischen Rationalismus von Karl Popper, die agnostische und evolutionäre Ethik Friedrich August von Hayeks, die konsequenzialistischen Traditionen des Utilitarismus und des Pragmatismus, den Lebenschancen-Ansatz von Ralf Dahrendorf und Amartya Sen, die Ordnungsethik nach Karl Homann, die Diskursethik von Jürgen Habermas, die liberale Tugendethik von William Galston sowie die Ethik weltbürgerlich verantworteter Freiheit von Karl Christian Friedrich Krause, Otfried Höffe und Claus Dierksmeier.

Unser friedliches Zusammenleben erfordert, dass wir Werte einüben, die im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, und mit Blick auf den Fortbestand der Gemeinschaft wünschenswert sind. Ohne vernünftige und stetige Reflektion auf die Erfahrung mit unseren Werten kommen wir dabei nicht aus. Unsere moralischen Intuitionen ebenso wie die vorherrschenden Konventionen der real existierenden Moral bedürfen der ethischen Prüfung durch die Vernunft. Freilich, ohne die Vernunft zu überschätzen – sie muss mit den moralischen Gefühlen arbeiten, die auch unsere politischen Erwartungen prägen.

Liberale Demokratie als ethische Praxis der Erkundung von Lebenschancen

Demokratie ist aus dieser Sicht eine ethische Praxis. Denn die öffentlichen Feedback-Prozesse des Dialogs und der demokratischen Rechenschaftslegung sind die demokratische Entsprechung einer ethischen Prüfung. Die Demokratie als Praxis des Vernunftgebrauchs ist eine so zivile wie zivilisierende Lebensform eines kontinuierlichen Lerngeprächs darüber, welche Werte wir wie besser realisieren wollen, welche Normen wir deshalb setzen, durchsetzen, pflegen und mit unseren Kindern einüben, und welche Güter wir wie für wen zugänglich machen sollten.

Demokratiepolitik und Freiheitspolitik gehören deshalb zusammen. Freiheitspolitik heißt zunächst (1) Ordnungspolitik als Sorge um die Grundordnung fairer und humanisierender Institutionen und Verfahren, Regeln und Rechte. Sie umfasst zugleich (2) Chancenpolitik mit dem Ziel, jedem Menschen Lebenschancen gewährleisten, sowie die (3) Kultivierung von Lebensformen verantworteter Freiheit. Freiheitspolitik heißt, sich um die praktische Geltung, Gewährleistung, Balancen und Verträglichkeiten von formalen Freiheitsrechten und nutzbaren Lebenschancen zu kümmern. Die Freiheitsbilanz immer wieder zu optimieren, ist zivilisatorische Sisyphosarbeit, ein stetes Such-, Lern-, Ausgleichs- und Friedensprojekt.

Wo Freiheitspolitik dem politischen Raum gilt, ist sie Demokratiepolitik. Sie gilt dann den offenen Such-, Lern- und Gestaltungsprozessen der Demokratie – der Sorge um Institutionen, Verfahren, Öffentlichkeiten, Assoziationen, Kultur und Personal freiheitlicher Such-, Lern und Gestaltungsprozesse. Demokratie ist dann Freiheit zum Mitmachen, eine gemeinsame Praxis weltwirksamen Selbstvollzugs. Und liberale Demokratiepolitik wäre in diesem Sinne die metapolitische Praxis der Gestaltung der Bedingungen einer liberalen Demokratie als Herrschafts-, Regierungs- und Lebensform. Sie wäre: Liberale Verantwortungsethik als politische Praxis.

IV. Kritik am Moralismus des ausgestreckten Zeigefingers – Plädoyer für eine Moral der sichtbaren, ausgestreckten Hand

Wie Menschen moralische Intuitionen ausleben, ist also eine Frage der Sozialisation in vorherrschende Moralvorstellungen, aber auch eine Frage des Comments der Vernunft, der die liberale Öffentlichkeit kennzeichnet. Für uns Liberale ist Demokratie öffentlicher Vernunftgebrauch – der Versuch, unsere moralischen Impulse mit Vernunft zu sortieren und zu verhandeln. Wir respektieren den Pluralismus der Moralvorstellungen, aber wir messen sie an ihrem Beitrag zum freiheitlichen Miteinander in friedlicher Vielfalt. Freiheit braucht Fairness und Verantwortung und ist ohne sie auf Dauer nicht zu haben – diese Einsicht der Karlsruher Freiheitsthesen, des aktuellen Grundsatzprogramms der FDP, hat der Philosoph Claus Dierksmeier besonders stark gemacht.

Deshalb weisen wir Moralismus zurück. Moralismus heißt, die eigenen moralischen Intuitionen oder Vorstellungen zu verabsolutieren. Darin ist er dem Dogmatismus verwandt: Moralische Überzeugungen werden als Imperativ, als fertige Entscheidung verkündet. Ihr fixer Gehalt soll für sich selbst sprechen. Moral ist aber nicht, wie eifernde Moralisten das vertreten und eilfertige Kritiker es ihnen glauben, das Ende des bürgerschaftlichen Gesprächs. Sondern dessen Anfang.

Denn wir brauchen die Moral als Rohmasse für gute Entscheidungen. Bestimmte Normen, Formen und Regeln haben sich ja in der Vergangenheit ohne Zweifel dabei bewährt, ein gutes Leben zu gewährleisten. Aber ob sie das heute noch tun, ist dann durch eine systematische und vernünftig betriebene Ethik zu hinterfragen und zu überprüfen. Denn natürlich hat die Moral auch immer bestimmten religiösen, wirtschaftlichen oder kulturellen Interessen und Machtverhältnissen gedient. Und ethisch wäre dann zu fragen, welche moralische Verhaltensweisen warum und wie Affirmation und Fortsetzung oder Kritik und Korrektur verdienen.

Was wir deshalb zurückweisen, ist der Moralismus des ausgestreckten Zeigefingers. Was wir mit ethischen Überlegungen pflegen und kultivierten wollen, ist eine liberale Moral – eine Moral der sichtbaren, der ausgestreckten Hand, mehr noch: der ausgestreckten Hände, die unsere liberale Demokratie über alle Vielfalt hinweg zusammenhalten.

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