Impfen? Impfpflicht? Eine liberale Abwägung

Vor einigen Jahren las ich die autobiographischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Hier erzählte Höss eher beiläufig, dass die Nazis damals in Polen und anderen Ostgebieten massiv das Gerücht streuten, dass Impfen gesundheitsschädlich sei, um auf diese Weise die dortigen Bevölkerungen anfälliger für Krankheiten zu machen und so zu dezimieren.

Rudolf Höss (1901-1947), Quelle: wwww.wikipedia.org

Diese Episode fiel mir schon damals auf und kommt mir gerade in diesen Monaten immer wieder in den Sinn – zumal die Parolen, die damals in Osteuropa von den Nazis verbreitet wurden, heute wieder zu hören sind: Impfen ist gesundheitsschädlich, macht unfruchtbar, die Langzeitfolgen sind nicht absehbar usw.

Nicht, dass das Impfen bei den Nazis selbst völlig unumstritten gewesen wäre: Heinrich Himmler lehnte das Impfen als „widernatürlich“ ab, Julius Streicher vermutete einen jüdischen Versuch, die Welt zu vergiften. Offizielle Politik der Nazis in Deutschland war jedoch, massiv für das Impfen zu werben, um die Wehrfähigkeit des Reichs zu erhalten.

Ich will nicht unterstellen, dass heutige Impfkritiker den Nazis nahestehen. Was mir allerdings auffällt, sind die Argumentationsmuster, die wieder auftauchen.

Seitdem es das Impfen gibt, gibt es Gegner und Kritiker. Seit etwas über 200 Jahren wird geimpft (erstmals 1796 gegen die Pocken), die Kritik war eigentlich immer die gleiche: ein illegitimer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, nicht absehbare Langzeitfolgen, Sexualkrankheiten („Syphilisierung“, Unfruchtbarkeit), gewollte Vergiftung durch einen geheimen Feind (damals die Juden, heute Bill Gates).

Geimpfte werden zu Kühen, Karikatur von 1802 (Quelle: http://www.wikipedia.org)

Auf der anderen Seite stehen die erfolgreiche Bekämpfung diverser Krankheiten, die als ausgerottet gelten (Pocken) oder stark eingeschränkt wurden (Kinderlähmung, Masern, Pest, Cholera, Tuberkulose, Diphterie usw.).

Unterm Strich muss man sagen, dass die Geschichte des Impfens eine Erfolgsgeschichte ist, die vielen Millionen Menschen das Leben gerettet hat – und dessen Nichtbeachtung bis heute viele Leben kostet. Jedes Jahr sterben laut Angaben von UNICEF noch immer alleine 3 Millionen Kinder ungeimpft an Krankheiten, gegen die ein Impfstoff verfügbar wäre.

Die Geschichte des Impfens und die Geschichte ihrer Gegnerschaft muss man kennen, um die aktuelle Situation einschätzen zu können.

Durch diese Geschichte werden zwei Dinge deutlich: es hat schon immer Kritik gegeben und sie war noch nie faktenbasiert. Auffällig ist zudem, dass der Anteil der Bevölkerung, die dem Impfen sehr skeptisch gegenübersteht, in den deutschsprachigen Ländern deutlich höher ist als in den anderen Ländern.

Impfen?

Was bedeutet das nun für die heutige Situation im Umgang mit Covid 19? Wie ist das Impfen zu beurteilen? Kann und darf man zum Impfen verpflichten?

Die Corona-Pandemie ist gerade in Deutschland datenmäßig sehr schlecht erfasst. Weder gibt es Daten, welche staatlichen Maßnahmen welche Wirkungen erzielten, noch gibt es genaue Daten, wo man sich eigentlich genau mit dem Corona-Virus infiziert. Dieses Defizit hat seine Ursachen in einer kaum vorhandenen Digitalisierung der Behörden (Stichwort Fax-Gerät) und in einem schlechten Krisenmanagement der Regierung.

Die Daten- und entsprechend die Faktenlage ist also ausgesprochen schlecht. In einer Sache aber ist die Datenlage eindeutig: beim Impfen.

Die Viruslast eines Nicht-Geimpften ist höher als bei einem Geimpften. Geimpfte können sich infizieren, aber deutlich seltener. Geimpfte können auch auf der Intensiv-Station landen, aber deutlich seltener.

Wenn eine Gruppe von 20% der Bevölkerung 80% der mit Covid-Patienten belegten Intensivbetten belegt, dann spricht das eine deutliche Sprache. Wenn die deutschen Regionen mit niedrigen Impfquoten deutlich höhere Infektionszahlen haben, spricht das ebenfalls eine deutliche Sprache.

So liegt in diesen Tagen in Sachsen beispielsweise die Inzidenz bei Geimpften bei 64. Die der Ungeimpften bei 1823. Das Risiko, an Corona zu sterben, ist ohne Impfung 32x wahrscheinlicher.

Hier liegt bereits ein schwerer und fahrlässiger Fehler in der Kommunikation vor, wenn einzelne Politiker oder sonstige Personen es für das Infektionsgeschehen als gleichgültig bezeichnen, ob viele Menschen geimpft sind oder nicht. Der Einfluss auf das Pandemiegeschehen ist eindeutig.

Freiheit?

Die persönliche Freiheit, über sein Leben zu entscheiden, ist ein hohes Gut. Das entsprechend oft von Impfgegnern zitiert wird. Anders als oft behauptet, betrifft die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, jedoch nicht nur die Person selbst.

Spätestens die Verschiebung von Operationen in den Krankenhäusern durch die starke Zunahme von Covid-19-Patienten macht dies deutlich. Das Entscheidende hierbei ist die Möglichkeit, das Virus weiterzugeben und damit indirekt auch Leute in Gefahr zu bringen, die einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Diese Möglichkeit gibt es zwar auch bei Geimpften, aber sie ist deutlich geringer – für die Ausbreitung des Virus entscheidend geringer.

Durch die Gefährdung anderer ist die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, nicht nur eine persönliche Entscheidung. Und hieraus ergibt sich auch eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen.

Der Hinweis auf die persönliche Freiheit verfängt nicht, da die Freiheit des einen da aufhört, wo die des anderen betroffen ist. Die Freiheit ist kein absolutes Recht – sonst würde es keine Gesetze geben, die als Gesetze immer darauf abheben, persönliche Freiheit einzuschränken, um ein gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen.

Um die Gefährdung anderer zu vermeiden und durch das faktisch nicht vorhandene persönliche Risiko einer Impfung besteht eine moralische Verpflichtung sich impfen zu lassen. Entsprechend sollte diese moralische Verpflichtung auch als solche dargestellt werden. Es ist nicht gleichgültig, ob sich jemand impfen lässt, sondern es hat gesellschaftliche Konsequenzen. Dies gilt es auch zu benennen.

Es gilt aber auch: eine moralische Verpflichtung ist eine Selbstverpflichtung, keine Pflicht, die von außen durchzusetzen ist. Ist eine Impfpflicht legitim?

Impfpflicht?

Ganz offensichtlich ist das Impfen ein wirksames Mittel, die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die ethische Frage, ob sich daraus eine Impfplicht ergeben kann, ist abhängig von 3 Kategorien:

  1. Gibt es eine Notlage, die eine solche Pflicht rechtfertigt?
  2. Wenn ja, gibt es eine Alternative, diese Notlage zu verhindern?
  3. Besteht ein persönliches Risiko?

Zu 1.) Hier in den Niederlanden und in den Teilen Deutschlands mit hohen Inzidenzzahlen müssen die Krankenhäuser bereits Operationen verschieben. Triagen sind in Österreich angekündigt. Das Verheerende ist, dass bereits ein Corona-Patient mehrere andere Operationen verhindert, da seine Liegezeit deutlich länger ist als die eines durchschnittlichen anderen Patienten, der operiert wurde. Heißt: ein Corona-Patient verhindert 3 andere Operationen.

Angesichts der sich auf den Intensivstationen verschärfenden Situation kann man von einer sich anbahnenden Notlage sprechen, die systemimmanent (mehr Betten, mehr Operationen) nicht auf die Schnelle lösbar ist. Möglicherweise wäre diese Situation durch frühere Investitionen im Gesundheitswesen vermeidbar gewesen. Aber zum einen kann man ein Gesundheitswesen nicht konstant auf eine Pandemiesituation ausrichten und zum anderen ändert das nichts an der aktuellen Situation. Und nur die zählt.

Zu 2.) Der Staat greift in das Infektionsgeschehen ein, indem er die Kontaktmöglichkeiten von Infizierten verringert. Dies tut er durch einen mehr oder weniger vollständigen Lock-Down. Nun hat sich der Lock-Down als ein sehr zweischneidiges Instrument erwiesen, das viele negative Folgen hat, die ökonomischer, sozialer und psychischer Natur sind. Einige Länder gehen dazu über, derartige Maßnahmen nur für Nicht-Geimpfte zu verhängen, andere – wie die Niederlande – führen einen mehrwöchigen „Teil-Lockdown“ für alle durch.

Nun muss eine ethische Güter-Abwägung stattfinden: Lockdown oder Impfen? Was ist das kleinere Übel? Ist es berechtigt, eine ganze Gesellschaft lahmzulegen, weil eine Minderheit sich weigert, sich zu impfen? Ist es berechtigt, jemanden, der sich nicht impfen lassen will, vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen?

Zu 3.) Impfgegner sprechen oft von einem hohen persönlichen Risiko, das mit einer Impfung verbunden ist. Sicher gibt es Nebenwirkungen und gibt es (wenige) Menschen, denen aus medizinischen Gründen von einer Impfung abzuraten ist.

Das persönliche Risiko bei einer Impfung ist als äußerst gering bis faktisch kaum vorhanden einzuschätzen. Zum einen hat der Impfstoff eine reguläre Testphase durchlaufen. Dass diese deutlich schneller war als sonst üblich hat nichts mit mangelnder Sorgfalt oder aufgeweichten Kriterien zu tun, sondern damit, dass aufgrund der einmalig hohen Finanzmittel viele Schritte und Testkapazitäten beschleunigt werden konnten. Zum anderen kann ein Impfstoff keine negativen Langzeitfolgen haben. Er hat evtl. Nebenwirkungen, die in den ersten Tagen auftreten (v.a. Thrombose bei Astra-Zeneca). Er kann aber keine Langzeitfolgen haben, die erst nach längerer Zeit auftreten. Da mittlerweile 7 Milliarden Impfungen verteilt wurden, dürften Nebenwirkungen bekannt sein. Neu entstehende Langzeitfolgen sind schon deshalb nicht möglich, weil der Impfstoff nach wenigen Tagen nicht mehr im Körper ist.

Ein realistisches persönliches Risiko durch die Impfung besteht also nicht.

Zusammenfassung

Ich bin kein Mediziner, ich bin Philosoph.

Ich muss mich auf die Informationen verlassen, die ich bekomme, die ich allerdings auch auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüfen kann.

Wenn die Situation so ist, wie die Medien es beschreiben und wie es auch Bekannte von mir beschreiben, die im medizinischen Bereich tätig sind, dass die Situation in den Krankenhäusern sich verschlimmert und notwendige Operationen verschoben werden müssen,

wenn es so ist, dass sich in der Bekämpfung der Pandemie kein anderes Werkzeug als so effektiv herausgestellt hat wie die Impfung (etwa gegenüber dem Lockdown und seinen Schäden),

wenn es so ist, dass bei einer Impfung faktisch kein persönliches Risiko für den Geimpften vorhanden ist,

dann ist auch aus ethischer Sicht eine staatliche Impfpflicht zu rechtfertigen, wie es sie immer wieder gegeben hat und auch heute gibt (etwa bei Reisen).

Diese Impfpflicht kann sich auf eingegrenzte Berufe oder Personen beschränken, die besonders gefährdet sind oder andere gefährden, wäre aber je nach Notlage auch für die ganze Bevölkerung begründbar.

  • Dagegen steht nicht der Hinweis auf die persönliche Freiheit, die nicht absolut ist, sondern da aufhört, wo sie die Freiheit des anderen betrifft.
  • Dagegen steht nicht der Hinweis auf ein persönliches Risiko, was offensichtlich kaum vorhanden ist und in keinem Verhältnis zum Risiko einer Infektion oder Infektionsweitergabe steht.
  • Dagegen steht vor allem nicht der Hinweis auf eine Spaltung der Gesellschaft, die gerade erst durch diese Hängepartie vorangetrieben wird. Hier ist die Rolle der verschiedenen Regierungen etwa in Deutschland oder den Niederlanden sehr kritisch zu sehen, die harte Maßnahmen gegen die ganze Bevölkerung ankündigen und anscheinend auf diese Weise den Druck auf die Nichtgeimpften erhöhen wollen, ohne eine Impfpflicht auszusprechen. Das Ergebnis ist eine Verschärfung der Spaltung – nicht durch eine Impfpflicht, sondern durch Druckaufbau ohne Impfpflicht.

Wir stehen jetzt am Beginn der 4. Infektionswelle. Die Staaten haben alles Mögliche versucht. Man kann zu Recht fragen, ob diese Versuche optimal gelaufen sind, aber nach jetzt knapp 2 Jahren Corona kann man feststellen, dass es alles nichts gebracht hat: die nächste Welle kommt immer. Die bisherigen Maßnahmen erinnern an den Versuch, ein Feuer mit drastischen Maßnahmen zu löschen, ohne dabei aber an einen langfristigen Brandschutz zu denken, der das Ausbrechen des Feuers verhindert.

Die Frage, die sich stellt: kommen wir überhaupt aus diesem ewigen pandemischen Kreislauf heraus ohne eine halbwegs flächendeckende Impfung? Angesichts der Erfahrungen der letzten beiden Jahre muss man dies verneinen. Demgegenüber stehen die Zahlen von Ländern mit hohen Impfquoten, die über deutlich geringere Infektionszahlen und deutlich geringere Sterbezahlen verfügen und deren Bevölkerungen wieder ein normales Leben führen können.

Wenn eine Notlage vorliegt und wenn sich in der Tat die Impfung als einziger Ausweg aus der Pandemie erweist, hat der Staat das Recht und vielleicht auch die Verpflichtung, eine Impfpflicht einzuführen. Dieser Eingriff in die persönliche Freiheit wäre sicherlich wichtiger und besser begründet als viele andere Eingriffe, über die sich keiner aufregt.

Eine Antwort auf „Impfen? Impfpflicht? Eine liberale Abwägung“

  1. Ich empfinde diese Argumentation durchaus als logisch und in sich schlüssig.
    Jedoch stimme ich einigen Prämissen nicht zu.
    Zum einen ist das Bild mit Blick auf Länder mit höherer Impfquote keineswegs so eindeutig, wie beschrieben.
    Sind Gegenbeispiele vorhanden, dass Länder ohne Impfplicht oder hohe Impfquote normale Leben führen können, ohne das gleichzeitig dort die Pest ausgebrochen ist.
    Die Annahme, dass ITS fix sind und sich die Bevölkerung an deren (sich reduzierenden) Kapazitäten zu orientieren hat.
    Die Datenerhebung der Inzidenzen nicht unter gleichen Voraussetzungen passieren. Die Impfung wird vielleicht eine Wirkung haben, jedoch baut diese anscheinend recht schnell ab und genau beantworten kann man das bei einem so chaotischen „Experiment“ nicht.
    Die Nebenwirlungen sind vorhanden und wohl auch leicht erhöht im Vergleich zu anderen Impfstoffen. Und da die negativen Folgen (im seltenen Fall, dass welche auftreten) weder vom Impfhersteller noch vom verpflichtenden Staat übernommen werden, sondern von der Einzelperson. Das ist nicht in Ordnung.
    Die Aussage, dass der Impfstoff ja schnell weg ist und deshalb keine Langzeitfolgen auftreten können, sehe ich auch kritisch. Denn wenn der Impfstoff auf längere Sicht eine Wirkung haben soll, dann kann auch auf längere Sicht unbekannte Nebenwirkungen auftreten. Vor allem, da dieser Eingriff in das Immunsystem des Memschen in dieser Form bisher noch nicht passiert ist, anders als bei anderen Impfstoffarten.
    Wenn außerdem noch die Unsicherheit mit dem die ganzen Daten belegt sind mit einbezieht, finde ich es mehr als legitim zu dem Themenkomplex zu anderen Schlüssen zu kommen.
    Um auch einen konstruktiven Vorschlag zur Eindämmung der Virusverbreitung zu machen:
    Aus meiner Sicht ist eine flächendeckend Testpflicht (mit Schnelltests) das sinnvollste. Denn diese können die Frage – Bin ich ansteckend? – relativ gut beantworten. Die Art der Subventionierung von Testzentren kann novh optimiert werden, dass diese auch günstiger werden. (In etwa so: es gibt einen eigenbetrag, sodass die Leute zu günstigeren Testzentren gehen und dort Konkurrentez entsteht), oder aber man erlaubt Selbsttest unter Aufsicht vor Einlass.
    Jedenfalls sollte man dort die Hürden abbauen sich testen zu lassen,damit es mehr Leute tun und die Information über den eigenen Zustand zu haben und mit diesem Wissen verantwortlich handeln können. Denn wenn man sofort erkennen könnte wer ansteckend ist und wer nicht, dann wären wir in einer anderen Lage. Wir stochern aber weiter im Nebel und verlangen von Menschen Risiken einzugehen, die sie selber nicht bereit sind zu tragen.

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