Es dürfte allgemeiner Konsens sein, dass wir innerhalb moderner liberaler Demokratien Kulturkämpfe erleben, die die liberale Demokratie selbst bedrohen. Nicht klar ist aber, welche Rolle Liberale angesichts dieser Kulturkämpfe einnehmen. Ich sehe drei Optionen.
Ich meine, in diesen Kulturkämpfen geht es um die Selbstverständlichkeiten wünschenswerten Zusammenlebens: Welche Werte, Konventionen und Praktiken sollen unser künftiges Zusammenleben prägen? Sie sind damit einerseits Orientierungskrisen: Krisen des Wissens, was (in Affirmation oder Bruch) künftig gelten soll. Sie sind andererseits aber auch Krisen des Umgangs miteinander – und damit: der liberalen Methoden ziviler Lernprozesse in Demokratie, Wissenschaft und Marktwirtschaft.
Diese Kulturkämpfe sind historisch nichts Neues. Sie markieren eine Krise (nicht nur in) der liberalen Demokratie, also einen möglichen Wendepunkt: „Where do we go from here: Chaos or Community?“, wie Martin Luther King 1967 schrieb. Zur Disposition steht, welche Gemeinschaft wir meinen; welche Bedeutung individuelle Freiheit darin hat; und welche Normen wir deshalb in der Öffentlichkeit affirmieren oder überwinden wollen; eine Auseinandersetzung, die deshalb auch die Rolle privater, öffentlich-rechtlicher und „sozialer“ Medien und der Universitäten betrifft, die ja eigentlich das Medium öffentlicher Auseinandersetzungen sein sollten.
Das können wir als die Infektion gesellschaftlicher Reflektionsräume mit dem Virus des Kulturkampfes verstehen: Die Möglichkeit und Funktion von Vernunft und Argument, von Kritik und Korrektur, von Wissenschaft und Fakten und damit am Ende auch von Wahrheit und Fortschritt stehen zur Disposition. Die Kulturkämpfe sind deshalb auch ein „epistemischer Bürgerkrieg“, wie Jonathan Rauch von der Brookings Institution im Spiegel 40/2021 vom 2. Oktober zu Recht diagnostizierte.
Für uns Liberale stellt sich die Frage, welche Rolle wir im Kulturkampf einnehmen. Hier finde ich eine zweite Anmerkung Rauchs hilfreich. Er unterscheidet:
„Die Bedrohung kommt aus zwei Richtungen. Aus einer Troll-Kultur, die virale Desinformationen und alternative Realitäten verbreitet. Und aus der Cancel Culture, die zwanghaft Konformität herstellen und Andersdenkende ausgrenzen will. Die eine ist überwiegend rechts und populistisch, die andere überwiegend links und elitär. Die eine setzt auf Chaos und Verwirrung, die andere auf Anpassung und sozialen Druck. Aber ihre Absichten ähneln sich, und seltsamerweise agieren sie oft, als wären sie de facto Verbündete in ihrem Bestreben, die Regeln unserer Erkenntnisproduktion ins Wanken zu bringen.
Beide, Troll-Kultur und Cancel Culture, setzen auf die Techniken moderner Informationskriege. Beide Kulturen sind expansiv und verstehen es, unsere menschlichen Schwächen auszunutzen. Beide haben wichtige institutionelle Positionen erobert, das Weiße Haus genauso wie wesentliche Teile der akademischen Welt. Und beide leben vom Tempo und von der Schlagkraft digitaler Technologien.“
Jonathan Rauch: Das Ende unserer Diskussionskultur: Wenn alle um Sie herum mit Ihnen übereinstimmen, machen Sie etwas falsch
Die (zivilisatorisch verklemmende, eher elitäre) Cancel Culture und die (zivilisatorisch enthemmte, eher proletenhafte) Troll Culture brauchen und bestärken einander. Und weil es um Gemeinschaft geht, sind beide dezidiert identitär. Rechts wird (schon Jahrzehnte lang) die aggressiv nationale Geschichte alten Heldentums gepflegt, links werden passiv-agressive Geschichten ewigen Opfertums konstruiert.
Wie also stellen wir Liberale uns dazu?
Die erste Option ist, dass wir uns (auch) am Kulturkampf gegen Desinformation und Fake News, gegen Hater und Trolle von rechts beteiligen. Sicher nicht in der selbstgerechten Form, dass wir canceln, wer nicht politically correct ist: Wir sind ja keine Social Justice Warriors. Und sicher nicht in Form der Bewirtschaftung des Kulturkampfes, wie sie Jan Böhmermann, facebook, Twitter & Co vornehmen. Aber vielleicht in Form von „Happy Warriors für die liberale Demokratie“, indem wir Desinformations-Mechanismen mit Faktenchecks, besseren Informationen, Aufklärung und Transparenz entlarven, wie es sich etwa die Operation Heuss und Medien wie die Washington Post vorgenommen haben.
Die zweite Option ist, dass wir uns (auch) am Kulturkampf gegen gegen Cancel Culture, hypermoralische Political Correctness und selbstgerechte Social Justice Warriors von links beteiligen. Sicher nicht in der selbstgerechten Form von „owning the libs“ durch Provokation mit dem Anspruch auf Meinungsfreiheit aus tiefster Werteorientierung, wie Ben Shapiro das Benedikt Brechtken & Co vormachen; oder in der Bewirtschaftung des Ressentiments gegen links, wie Teile der Welt und der NZZ oder neuerdings The Republic durchturnen. Aber vielleicht in Form von „Happy Warriors für die liberale Demokratie“, die Exzessen, Doppelmoral, blinde Flecken und abschüssigen Wegen in die Tugenddiktatur widersprechen, wie Teile der Welt oder der FAZ und wiederum die Operation Heuss das tun.
Die dritte Option scheint mir, dass wir versuchen, uns gar nicht erst an Kulturkämpfen zu beteiligen, sondern sie aufzulösen, irrelevant zu machen oder sonst wie zu überwinden. Vielleicht mit den Mitteln der Aufklärung zu Dynamiken der Polarisierung. Emotionalisierung, Schwarz-Weiß-Denken und „Wir gegen die“-Logik trägt zur Polarisierung und Entmenschlichung der Anderen bei, wie wir von Jonathan Haidt lernen können. Oder indem wir die Bewirtschaftung von Kulturkämpfen durch die digitalen Medien facebook, Twitter & Co unterbinden oder regulieren: Polarisierende Algorithmen und demokratiefeindliche Geschäftsmodelle sind inakzeptabel. Oder wir pflegen das Beispiel einer fairen und produktiven liberalen Debattenkultur. Dazu gehört wohl auch die Pflege eines republikanischen Ethos der Liberalität, verwurzelt in gemeinsamen historischen Erfahrungen und auf der Basis gemeinsamer Werte.
Bei allen Versuchungen der ersten und zweiten Option – wir müssen ja satisfaktionsfähig sein – sympathisiere ich selbst am Ende mit der dritten Option. Aber ich bin offen für andere Argumente.