Der Liberalismus und die Natur

Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist das zentrale Thema der aktuellen politischen Diskussion. Der Glaube oder die Meinung, was die Natur eigentlich ist, beeinflusst das gesamte Verhalten des Menschen. Entsprechend wichtig ist für jede politische Kraft eine Reflexion ihres eigenen Naturverständnisses, da dieses nicht nur die Basis der Klima- und Umweltpolitik darstellt, sondern auch entscheidend ist für alle anderen politischen Bereiche.

Die verschiedenen Sichtweisen auf die Natur, die heute präsent sind und den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland dominieren, sind kulturell und historisch gewachsen. Sie prallen in den aktuellen Debatten zumeist instinktiv und nicht bewusst aufeinander. Sie werden als solche nicht thematisiert und ermöglichen so die Herausbildung mehrerer Lager, die sich nicht verstehen können und nicht miteinander kommunizieren. Da diese Narrative das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung sind, braucht es einen kurzen Blick in die Historie, um ihre Entwicklung und ihre Gegenwart zu verstehen.

Der Anfang der „Natur“

Ursprünglich gab es kein Wort und keinen Begriff „Natur“. Die Menschen sahen die Welt ausschließlich als Schöpfung eines oder mehrerer Götter. Die Welt hatte keinen Wert an sich, sondern bezog ihren Wert aus der Tatsache, vom Göttlichen geschaffen zu sein. So sind antike Lobgesänge auf die Welt und auf den Kosmos letztlich immer Lobgesänge auf den Gott, der diese wunderbare Welt geschaffen hat. Entsprechend gab es kaum ein Interesse an der Natur an sich, das über bloße Fragen des Überlebens in ihr hinausging. Ein darüber hinaus gehendes Interesse war nicht nur überflüssig, es wurde sogar als Frevel angesehen, als ein nicht legitimes Eindringen in die Sphäre des Göttlichen.

Odysseus und Hermes (Quelle: wikimedia)

Im vorklassischen Griechenland tauchte eine neue Sicht auf die Welt auf, die erstmals in der Odyssee Homers belegt ist: die Welt als „physis“, das dann später im Lateinischen zur „natura“ und damit zu unserer „Natur“ wird. In der Odyssee (X 302ff.) wird geschildert, wie Odysseus und Hermes sich neugierig eine Pflanze anschauen und die „Natur“ (physis) dieser Pflanze bewundern. Diese unscheinbare Stelle in der Odyssee ist eine geistesgeschichtliche Revolution: erstmals wird hier die Welt nicht mehr als Schöpfung eines Gottes gesehen, sondern als etwas Eigenständiges, das sich aus sich selbst heraus entwickelt: es wächst „natürlich“, aus eigener Kraft.

Die Welt wurde nicht mehr nur auf den göttlichen Schöpfer hin gesehen, sondern gewann einen Eigenwert und wurde aus sich heraus interessant. Die Ursprünge der wissenschaftlichen Erforschung der Natur im antiken Griechenland entstanden aus diesem Naturverständnis heraus. In den nächsten Jahrhunderten gab es immer wieder Verschiebungen und neue Akzente in der Sicht auf die Natur, vor allem in Abhängigkeit davon, wie religiös die jeweilige Gesellschaft war. Die römische Spätantike und das Mittelalter waren sehr religiös geprägt, was bedeutete, dass die Natur vor allem auf den Schöpfer hin interpretiert wurde und damit von geringerem Interesse als Forschungsobjekt war. Mit dem Ende des Mittelalters kam es zu entscheidenden Veränderungen in der Sicht auf die Natur, die zu den modernen Naturwissenschaften (und zur Moderne überhaupt) führten. Das religiöse Gefühl schwächte sich ab: die christliche Religion spaltete sich auf, die Gesellschaften wurden säkularer und weniger religiös dominiert. Dieses Verschwinden der religiösen Macht hatte zwei Konsequenzen: eine intensivere Sicht auf den Menschen, der immer mehr in seiner Individualität und Subjektivität wahrgenommen wurde, und eine intensivere Sicht auf die Natur, die nun zum zentralen Objekt der Forschung wurde. Kopernikus, Galilei und Newton sind die ikonischen Figuren dieser Wiedergeburt der Naturwissenschaften.

Der Liberalismus

Die Entstehung des politischen Liberalismus, die im 17. Jahrhundert mit Hobbes und Locke Fahrt aufnimmt, ist ebenfalls in diesem Kontext der Säkularisierung zu sehen. Wenn die Gesellschaft bzw. der Mensch als Teil der Gesellschaft immer weniger von Gott her gedacht werden konnte, stellte sich die Frage, mit welchen Mitteln der Mensch sich und seine Gesellschaft gestalten soll. Es sind die Mittel der Vernunft. An die Stelle der religiösen Offenbarung, die Antwort auf alle Fragen gibt, tritt nun die Vernunft: das rationale Nachdenken und Argumentieren. Der Liberalismus beginnt, die Gesellschaft vom vernünftigen Einzelnen her zu denken und aufzubauen – ähnlich wie die Naturwissenschaften beginnen, die Natur im rationalen Nachdenken und Argumentieren zu durchdringen. Der politische Liberalismus und die Naturwissenschaften sind beide das Produkt einer gemeinsamen geistigen Haltung, die kennzeichnend ist für das, was wir „Moderne“ bezeichnen: der Glaube an die Vernunft, an das Argument, an den Fortschritt.

Quelle: pixabay.com

Dieser Glaube war nie unumstritten. Zum einen erwiesen sich im Laufe der Jahrhunderte sowohl der Mensch als auch die menschlichen Gesellschaften als nicht vernunftgesteuert. Was Freud für das Individuum lehrte, führten die Nazis in Deutschland in großem Stil durch: nicht die Vernunft, sondern die Triebe können die Oberhand gewinnen. Zum anderen erwies sich aber auch der Fortschrittsglaube der Naturwissenschaften als brüchig: Ereignisse wie das große Erdbeben in Lissabon 1755 oder der Untergang der Titanic 1912 erinnerten die europäischen Gesellschaften schmerzhaft an die Unüberwindbarkeit der Natur, die sich auch mit allen Mitteln der Wissenschaft nicht vollständig einhegen lässt.

Der Glaube an den Fortschritt hat ohne Zweifel in den letzten Jahrhunderten Gigantisches hervorgebracht. Alleine ein Blick auf die Steigerung der Gesundheit und der Lebenserwartung belegt dies. Mit diesem Glauben an den Fortschritt ging jedoch auch eine sich immer mehr verschärfende Ausbeutung der Natur einher. Diese Ausbeutung hat es immer gegeben, auch in den antiken und mittelalterlichen Gesellschaften. Rohstoffbedarf und Gier sind keine modernen Erfindungen. Die Ausbeutung der Natur hat in der Neuzeit jedoch nie vorher gekannte Ausmaße angenommen durch die immer größeren technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten sowie die immer mehr zunehmenden Bedürfnisse an Rohstoffen. Die Natur wurde vielerorts zu einem Selbstbedienungsladen, der keinen eigenen Wert besaß und ausschließlich dazu diente, die Bedürfnisse der Menschen zu stillen.

Der Liberalismus ist der politische Ausdruck dieser Haltung gegenüber der Natur. Es ist nicht so, dass der Liberalismus etwas gegen die Natur hätte. Aber indem er den Menschen mit seinen immer größer werdenden Möglichkeiten zum alleinigen Kriterium seiner Gesellschafts- und Naturgestaltung macht, wird die Natur faktisch geopfert. Dem Menschen früherer Epochen waren Grenzen gesetzt: zum einen durch den göttlichen Schöpfer, welcher der wahre Besitzer der Welt war und dessen Welt zu zerstören, ihn beleidigen würde; zum anderen wurden den Menschen durch die noch mangelhaften technischen Möglichkeiten entscheidende Grenzen gesetzt. Die Moderne hat diese Grenzen überwunden und der Liberalismus ist die politische Artikulation dieser Überwindung.

Die Romantik

Die zunehmende Beherrschung der Natur und der immer schneller galoppierende Fortschritt löste bei den Menschen nicht nur Zustimmung aus. Das Neue, das entstand, wurde von vielen Menschen als sinnentleert wahrgenommen oder sogar als feindlich gegenüber dem, wie die Welt eigentlich sein soll. Die Romantik Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts war der Höhepunkt dieser Entwicklung: die Technik und der Fortschritt wurden als Selbstentfremdung des Menschen kritisiert. Je mehr der Mensch sich der Natur zuwendet, desto besser ist es für ihn. Das Bild des „edlen Wilden“ (Rousseau) wurde geschaffen, des von der bösen Zivilisation unabhängigen Ureinwohners, der zum Vorbild für die fortschrittsversessenen Europäer werden soll. Diese kritische Sicht auf die Moderne bzw. die Verherrlichung einer technik- und wissenschaftsfreien Kultur verkennt allerdings, dass die Überwindung der Natur bzw. technische und wissenschaftliche Fortschritt für die Menschen große Vorteile gebracht haben – abgesehen davon, dass der „edle Wilde“ in seiner Liebe zur Natur und seiner Friedlichkeit ein Phantasieprodukt war. Mit Blick auf die letzten Jahrhunderte muss man feststellen, dass es kein Zufall ist, dass die Menschen heute im Durchschnitt älter als 30 werden, sondern eben jenem kritisierten Fortschritt zu verdanken ist. Eine Rückkehr zur Natur hätte für die Menschheit einschneidende Folgen. Wenn es nach der Natur geht, überleben die die meisten Kinder und viele Mütter die Geburt nicht, werden viele Menschen von Krankheiten früh hinweggerafft oder müssen jahrelang unter allen möglichen Schmerzen leiden, weil es keine Betäubung, keine Operationen, keine Impfungen und keine Medikamente gibt. Die fortschritts- und technikkritische Sicht auf die Moderne übersieht diese Folgen oder nimmt sie billigend in Kauf. Diese Sicht ist seit der Romantik um 1800 in den europäischen Gesellschaften präsent und artikuliert sich politisch in Deutschland insbesondere bei den Grünen, aber auch in Teilen der politischen Rechten.

Die Moderne ist entstanden durch ein herausragendes Vertrauen in die menschlichen Fähigkeiten. Dieses Vertrauen führte zur politischen Idee des Liberalismus und zu einem gigantischen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch zur Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Als Gegenbewegung zu diesem Vertrauen entstand eine Kritik an der Moderne, die sich an der Natur orientierte und den Menschen wieder zur Natur zurückführen wollte, dabei aber nicht beachtete, dass eine solche Rückführung zur Natur nicht nur einen Verlust an Lebensqualität, sondern auch an menschlichen Leben bedeuten würde.

Ein neues liberales Naturverständnis

Die heutigen Debatten über die Natur bewegen sich zwischen diesen beiden Polen, zwischen einer Überbetonung des Menschen, die eine Unterwerfung der Natur unter den Menschen zur Folge hat, und einer Überbetonung der Natur, die eine Unterwerfung des Menschen unter die Natur zur Folge hat. Mit Blick auf die Zukunft ist festzustellen, dass beide Wege in dieser Ausschließlichkeit eine Sackgasse darstellen: weder ist es möglich, die Natur weiter als reinen Selbstbedienungsladen zu sehen, noch ist es möglich, als Mensch zu leben, ohne die Natur zu beeinflussen.

Der Liberalismus stand und steht traditionell in seiner Weltsicht beim Menschen: die Welt und die Natur werden vom Menschen her entworfen. Diese Perspektive ist letztlich auch nicht anders denkbar für einen Menschen. Die Änderung, die im liberalen Naturverständnis zwingend Einzug halten muss, ist die Erkenntnis, dass der Mensch trotz allem technologischen und wissenschaftlichem Fortschritt immer abhängig von der Natur ist und auch immer bleiben wird. Die dauerhafte und nicht nachhaltige Ausbeutung natürlicher Ressourcen gefährdet die Lebensgrundlagen der Menschheit. Der Liberalismus entstand in der Europäischen Aufklärung als der Versuch, die menschliche Gesellschaft nicht durch eine Religion oder Ideologie, sondern durch die Vernunft zu entwerfen. Diese Vernunft hat in den Wissenschaften mittlerweile klarer als früher die Grenzen des Menschen gegenüber der Natur herausgestellt. Es ist nun die Pflicht des Liberalismus, diese Vernunft und diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zu akzeptieren und das eigene Naturverständnis diesen Erkenntnissen anzupassen.

Dabei hat dieses neue liberale Naturverständnis zwei inhaltliche Stoßrichtungen. Zum einen muss es sich ein Stück weit gegen die eigene Geschichte wenden: der Mensch ist abhängig von der Natur und diese Abhängigkeit wird er nicht überwinden können. Entsprechend sind Klima- und Umweltpolitik als zentrale Themen politischen Handelns ernst zu nehmen. Zum anderen muss sich das liberale Naturverständnis gegen eine Romantisierung und Überbewertung der Natur wenden. Eine bewusste und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen ist legitim, da der Mensch zwar Teil der Natur ist, aber auch nicht unter ihr steht. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt der letzten Jahrhunderte hat die Lebensbedingungen der Menschheit objektiv verbessert. Dieser Weg war auch durch die immer größere Beherrschung der Natur und der immer stärkeren Nutzung ihrer Ressourcen geprägt. Dieser Weg muss im Sinne der Nachhaltigkeit stärker als bisher die natürlichen Abläufe und den Menschen als Teil der Natur wahrnehmen, er muss aber als solcher fortgesetzt werden, zum einen um die Lebensbedingungen des Menschen weiter zu verbessern, zum anderen aber auch um überhaupt eine Chance zu besitzen, den großen klimatischen und naturbedingten Herausforderungen der Zukunft Herr zu werden.

Ein neues liberales Naturverständnis sieht den Menschen als Teil der Natur. Der Mensch ist nicht mehr wert als die Natur und deshalb darf er sie nicht rücksichtslos ausbeuten. Er ist aber auch nicht weniger wert als die Natur, deshalb darf er ihre Ressourcen gebrauchen. Die liberale Stimme, die sich in der Tradition der Europäischen Aufklärung sieht, wirbt für einen vernunftgemäßen Umgang des Menschen mit der Natur. Dieses vernunftgemäße Handeln setzt ein ständiges Ringen voraus, das die Bedürfnisse des Menschen und der Natur miteinander im Einklang sieht unter Berücksichtigung des jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsstandes. Genau dieses Ringen steht jetzt an, um ein neues und zukunftsfähiges liberales Naturverständnis zu entwickeln.

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