Der russische Präsident Putin greift sie an, Bundespräsident Steinmeier macht ihre Verteidigung zum wichtigsten Ziel seiner zweiten Amtszeit: Die „liberale Demokratie“. Aber was heißt „liberale Demokratie“ eigentlich aus Sicht der FDP? Gibt es überhaupt illiberale Demokratien? Ist die liberale Demokratie das gleiche wie eine „wehrhafte Demokratie“? Und müssen wir sie nur verteidigen, oder vielleicht auch reformieren? Darüber sollten wir viel mehr diskutieren. Hier ist ein Anfang – Einsprüche erwünscht!
Demokratie: Historisch nicht immer von allen Liberalen geliebt
Die demokratische Bewegung des Vormärz zwischen 1830 und 1848 war ein Kind des aufkommenden Liberalismus. Der wiederum war eine wenig ältere Bewegung in Frankreich, den Vereinigten Staaten, England und Deutschland, für die im Blick auf die neu entstehenden Verfassungen in Paris und Philadelphia die liberalitas der neuen staatlichen Ordnungen wichtig war. Die liberalitas war eigentlich eine antike Tugend: Eine zunächst unter Adeligen, seit der Renaissance auch unter Bürgern anzustrebende Haltung der Freigiebigkeit, Großzügigkeit und Gemeinsinnigkeit. Die neuen liberalen Verfassungen sollten in diesem Sinne Toleranz, Freiheit und Gemeinsam sichern.
Schon bald unterschieden sich „Liberale“ und „Demokraten“ in ihren Prioritäten. Die Liberalen dachten evolutionär. Für sie waren Verfassung und Rechte wichtig, sie wollten ein Zensuswahlrecht und warben für eine konstitutionell gezähmte Monarchie. Sie misstrauten den Demokraten, die sie „Radikale“ nannten und als Revolutionäre fürchteten, weil die für das allgemeine Wahlrecht eintraten, das Parlament an Stelle des Königs mit staatlicher Autorität ausstatten und gleiche Bildungschancen für alle wollten. So lange der deutsche Nationalstaat um seine innere Ordnung stritt, also eigentlich bis Mitte des 20. Jahrhunderts, vertraten Liberale und Demokraten unterschiedliche Ideen von staatlicher Organisation in (liberal, fortschrittlich oder demokratisch genannten) Parteien.
Einig waren sich Liberale und ein Teil der Demokraten aber gegen die Sozialisten, dass die Freiheit, nicht die Gleichheit der wichtigste Leitwert des liberalen Staates sein sollte. Die Bundesrepublik Deutschland wurde im Mai 1949 als repräsentative Parteiendemokratie mit den Leitwerten der Menschenwürde und der Freiheitsrechte gegründet. Die Deutsche Demokratische Republik entstand im Oktober 1949 mit dem Leitwert der Gleichheit.
Gibt es „illiberale Demokratien“?
Manche schreiben „DDR“ in Anführungsstrichen, weil sie sagen, sie sei ja nie wirklich demokratisch gewesen. Aber gibt es denn „illiberale Demokratien“? Oder müssen Demokratien nicht per se liberal sein? Darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Die einen sagen: Illiberale Demokratien, oder zumindest „non-liberale“ Demokratien stellen das Kollektiv und nicht die Rechte des Individuums in den Mittelpunkt. Sie verstehen Volksherrschaft als Herrschaft im Namen des Volkes, was ganz wörtlich „demokratisch“ ist: demos heißt (Staats)Volk, kratos heißt Herrschaft. Illiberale Demokraten berufen sich deshalb gerne auf die „schweigende Mehrheit“, deren Meinung sie selbst besonders gut kennen und nicht ganz zufällig im Fall autoritärer Populisten auch selbst verkörpern.
Dagegen gibt es Einspruch. Der Populismusforscher Jan-Werner Müller findet, man solle den Orbans der Welt die Weihe der „Demokratie“ nicht einfach so verleihen. Eine Demokratie funktioniere auf Dauer nur als liberale Demokratie. Ungarn selbst sei als Autoritarismus und Kleptokratie besser bezeichnet. Auch der Liberale Alexander Görlach weist darauf hin, dass Demokratien ohne liberale Ausrichtung die Rechte etwa von Frauen beschneiden, ethnische und religiöse Minderheiten stigmatisieren,Homo- und Transsexuelle dämonisieren und die eigene Geschichte und Religion glorifizieren – und dass sie damit die Axt an das Grundverständnis von Demokratien legen. Etwa die Freiheit und Gleichheit ihrer Mitglieder, oder die Bedingungen eines offenen und vielfältigen Gesprächs in der Öffentlichkeit.
Hmmm. Ich habe lange die erste Ansicht vertreten. Nicht, weil ich populistische Autokraten als Demokraten normalisieren will, sondern weil ich herausarbeiten wollte: An den Demokratien ist vor allem ihr liberaler Charakter gefährdet. Also die freiheitliche Grundordnung, die Gewaltenteilung, die Freiheitsrechte, die Offenheit ihrer Öffentlichkeit. Aber ich finde auch, dass zum Anspruch auf Demokratie immer gehören muss, dass die Willensbildung frei und gleichberechtigt ist, nicht von irgendwelchen Führern monopolisiert. Das ist sozusagen das „demokratische Minimum“. Und das ist zugleich ein Minimum an Liberalität.
Demnach wäre eine „Demokratie“ ohne dieses Minimum Etikettenschwindel. Eben „DDR“. Im Gegenzug frage ich gerne nach: Kann man überhaupt Liberaler sein, ohne Demokrat zu sein? Ich bin mir ziemlich sicher: Nein. Normativ gesagt, gehört zur Freiheit der Einzelnen eben auch die politische Selbstbestimmung. Die ist, mit Geltung für alle, nur in der Demokratie umzusetzen. Funktional gesprochen, gehört zu freiheitlichen Such- und Lernprozesse eben auch der öffentliche Streit nach Regeln im Zentrum demokratischer Entscheidungsvorbereitung.
Der große Anteil der FDP an der deutschen Demokratie
Jedenfalls: Die Bundesrepublik Deutschland gilt heute weltweit als herausragend stabiles Beispiel einer liberalen Demokratie. Das ist eine historische Leistung. Sie wäre ohne die Versöhnung einer Verfassung mit Freiheitsrechten und Gewaltenteilung, Parlamenten und dem freiheitlichen Engagement für demokratische Ziele in Parteien, Vereinen und Verbänden nicht möglich gewesen. Daran hatte die Freie Demokratische Partei einen entscheidenden Anteil.
Für den ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik, den großen Liberalen und FDP-Gründungsvorsitzenden Theodor Heuss, war Demokratie sowohl eine Staatsform als auch eine Lebensform. Erst die freie Bürgergesinnung gebe dem modernen Staat Legitimation, Form und Richtung, mahnte „Papa Heuss“ die Bürgerschaft der jungen Republik. Der Vater der Freiburger Thesen, der spätere Innenminister Werner Maihofer, schrieb dazu: „Der Staat sind wir alle. Aber der Staat darf nicht alles.“ Also: Der Staat geht von uns allen als gleichberechtigten und freien Bürger aus und ist uns allen verpflichtet. Aber die Freiheitsrechte verhindern, dass der Staat im Namen der Mehrheit die Minderheit überfahren darf.
Aktuelle Bedrohungen der Demokratie
Heute ist die liberale Demokratie von drei Seiten herausgefordert. Eigentlich vier, aber dazu gleich. Erstens bedroht zunehmende Polarisierung von innen die Stärke liberaler Demokratien: Ihre öffentliche Dialog- und Lernfähigkeit. Zwar sind links- und rechtsextreme Parteien bei den letzten Bundestagswahlen kleiner geworden. Aber man muss in Sachsen nicht sagen, dass Extreme von links und rechts mit ihrem emotionalen Kollektivismus und ihrer Gewaltbereitschaft das vernünftige Maß der liberalen Mitte bedrängen. Eine radikalisierte Klimabewegung könnte folgen. Hier ist die „wehrhafte Demokratie“ gefragt. Sie meint in erster Linie die selbstbewusste Durchsetzung von Rechten und Regeln des liberalen Staates, ist also eher ein innen- und sicherheitspolitisches Projekt als eine Stärkung lebendiger demokratischer Vielfalt der liberalen Bürgergesellschaft.
Zweitens stehen wir im Systemwettbewerb mit autoritären Staaten wie China und sind jetzt konkret bedroht durch Russland. Auch das muss in diesen Tagen wenig vertieft werden: Solche Staaten haben Angst davor, dass liberale Demokratien Wohlstand, Frieden und Freiheit ganz ohne starke Männer oder Einheitsparteien gewährleisten. Denn das stellt ihr Herrschafts- und Geschäftsmodell in Frage. – Dritte Herausforderung: Wir müssen Wohlstand, Frieden und Freiheit auch in Zukunft unter einen Hut bringen. Der Wandel von Klima, Demographie und Digitalisierung, den wir mit der Ampel gestalten wollen, bringt gewaltige Umbrüche mit sich. Das muss Konsequenzen für die Organisation unserer Demokratie haben.
Womit wir wieder bei Bundespräsident Steinmeier wären. Nach seiner Wahl am 13. Februar sagte er in seiner bisher größten und wichtigsten Rede, die dringlichen Umbrüche der kommenden Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise müssten Aufbrüche für uns alle werden. Dafür müssten wir viel sprechen und Brücken bauen. In der Tat ist die friedliche Gestaltung der Um- und Aufbrüche nicht denkbar ohne einen modernen, handlungsfähigen Staat. Der muss zugleich das Vertrauen der Bürgerschaft haben und wissen, was er zur dauerhaften Sicherung unseres freiheitlichen Zusammenlebens tun und was er lassen sollte.
Wir müssen unsere liberale Demokratie reformieren
Es reicht deshalb nicht, nur die liberale Demokratie als „wehrhafte Demokratie“ zu verteidigen. Sondern wir müssen sie reformieren, um demokratische Regierungsfähigkeit zu gewährleisten. Der Staat soll Dinge nicht besser wissen und den Bürgern vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Sondern er soll manche Dinge besser machen und andere Projekte lieber dem wirtschaftlichen Wettbewerb oder der bürgerschaftlichen Initiative, Selbstorganisation und Mitgestaltung überlassen. Konkret werden diese Fragen bei der Planung von Energie-Infrastruktur und Verkehrswegen, bei der besser organisierten Beratung von Parlamenten durch Bürgerschaft und Wissenschaft oder beim anstehenden „Demokratiefördergesetz“. Aber auch „die transformative Kraft der Städte“ und Gemeinden, wie es in der Neuen Leipzig-Charta zur Stadtentwicklung heißt, kriegen wir nur in partnerschaftlicher Arbeitsteilung freigesetzt. Das und noch viel mehr nimmt sich auch der Koalitionsvertrag vor.
Was mich zur vierten und letzten Herausforderung der liberalen Demokratie bringt: Wir Freien Demokraten als ihre Hüter haben Hausaufgaben und machen sie bislang zu wenig. Wer, wenn nicht wir, müsste sich darum kümmern, wie wir unsere liberale Demokratie fit für den friedlichen Wandel machen können?
Damit der Druck der Probleme zum Schub des Fortschritts wird, schlage ich das Leitbild der „lernenden Demokratie“ vor. Die Stärke der sozialen Marktwirtschaft oder der modernen Wissenschaften machen wir damit auch in der Politik groß: Friedliche, ergebnisoffene Such-, Lern- und Entscheidungsprozesse. Denn Veränderung braucht Verständigung, braucht Kritik und Korrektur, Streit nach Regeln, dezentralen Versuch und Irrtum. Die Pandemie zeigt’s: Wir müssen politisch aus Fehlern und Erfolgen noch viel schneller lernen. Wie das geht: Das müssen wir Freien Demokraten aufzeigen. Darum geht’s für Frieden und Freiheit im Land. Und darum muss es gehen bei liberaler Demokratiepolitik!
Eine erste Version dieses Artikels erschien im Frühjahr 2022 in der Mitgliederzeitschrift der sächsischen FDP.
Außerordentlich inspirierend…
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