2020 ist ein Jahr der Unruhe. Corona ist eine Seuche, die Angst auslöst um unsere Familien und Sorge um unsere Arbeitsplätze. Auch der Klimawandel zeigt seine apokalyptische Wucht: Die brennenden Wälder in Kalifornien vernichten Häuser und Gemeinden. Sie verpesten die Luft zum Atmen und verdüstern ganze Städte. In diesen Zeiten verlieren viele Menschen ihr Vertrauen, dass die Zukunft besser wird. Und mit dieser Unruhe steigen Konflikte und Spaltungen.
Auf dieses Klima der Angst antwortet das Weltethos-Projekt, für das ich in Forschung und Lehre am Weltethos-Institut arbeite, mit Besinnung und Ermutigung: Lernen wir miteinander und füreinander, wie in allen großen Religionen und Philosophien über Jahrhunderte hinweg, und konkret in vielen Organisationen und Unternehmen schon heute, Vielfalt zum Quell gemeinsamer Stärke wird. Drängende Herausforderungen wie der Klimaschutz, die Corona-Pandemie oder Diskriminierung können wir gemeinsam beantworten, wenn wir uns an elementaren, weltweit bereits geteilten Werten orientieren.
Weltethos: Eine globale Idee, deren Zeit gekommen ist
1990, vor 30 Jahren, begründete der Theologe Hans Küng das Projekt Weltethos: Die Besinnung der Menschen in allen Teilen der Welt auf ihre Traditionen der Verantwortung für einander und den Planeten Erde, um im 21. Jahrhundert ein Überleben der Menschheit in Menschlichkeit und Frieden zu sichern. Nach dem Ende des Kalten Krieges fand die Idee des persönlichen Beitrags für den globalen Frieden großen Widerhall, wo immer der Kampf der Kulturen (Huntington 1993) befürchtet oder nachhaltige Entwicklung als Beteiligungsprozess (Agenda 21) diskutiert wurde. Spätestens mit Fridays for Future und der globalen Ausbreitung des Corona-Virus erreichen 2020, 30 Jahre später, die Fragen globaler Verantwortung des Einzelnen, menschlichen Miteinanders und friedlichen Überlebens auch den Alltag und die Lebenswelt.
Hans Küngs Projekt Weltethos 1990-2020: Weltverantwortung als Überlebensfrage
Der Visionär Hans Küng hat diesen Diskussionsbedarf vor 30 Jahren kommen sehen. Im Bewusstsein epochaler planetarischer Herausforderungen warf der Tübinger Theologe mit seinem Buch “Projekt Weltethos” 1990 die Frage nach dem Überleben der Menschheit auf: Wie können wir im 21. Jahrhundert mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen, Überzeugungen und Werten friedlich überleben? Er beantwortete die Frage selbst mit dem Appell, ein planetarisches Bewusstsein zu entwickeln, sich auf die für alle religiösen, philosophischen und moralischen Traditionen zu allen Zeiten und Orten prägende Idee der Humanität zu besinnen und die Potenziale der Kooperation zu nutzen, statt in einem Konflikt der Kulturen menschliche Zivilisation zu verlieren.
Gemeinsame Weltverantwortung aus vielfältigen Quellen: Religionen, Wirtschaft, Politik
Das Projekt Weltethos lädt seit 1990 alle Menschen dazu ein, über nationale, religiöse, kulturelle, moralische oder sektorale Grenzen hinweg Verantwortung für menschliches Miteinander und unsere gefährdete Umwelt zu übernehmen. Die Erwartung Küngs von 1990, dass es in allen großen religiösen, philosophischen und moralischen Traditionen der Menschlichkeit einen elementaren Konsens über das Fundament, den Fokus und die Formen menschlicher Verantwortung geben könne, ist seit 1993 in diversen internationalen, interreligiösen und intersektoralen Erklärungen bestätigt sowie vielfach sozialwissenschaftlich und philosophisch untersucht worden. Das von Hans Küng dazu eröffnete große Gespräch zwischen Religion, Wirtschaft und Politik reicht heute vom Weltparlament der Religionen und dem Weltwirtschaftsforum in Davos über die Vollversammlung der Vereinten Nationen und den UN Global Compact bis in wissenschaftliche Konferenzen und Institute, Weltethos-Schulen und die World Citizen School, Unternehmen und Parteien, Konzertsäle und Fußballturniere, Workshop-Serien und Veranstaltungsreihen hinein. Weltethos ist zum Lernprogramm für eine bessere Welt geworden.
30 Jahre Weltethos-Projekt: Die Saat geht auf – Institutionen und Initiativen weltweit
30 Jahre Pionierarbeit im interreligiösen Dialog und globaler Verantwortung: Längst geht die Saat der Küng‘schen Ideen und Initiativen auf. Mit einem jährlichen Budget von mehreren Millionen Euro aus privaten Stiftungen und öffentlichen Haushalten arbeiten heute allein in Deutschland, der Schweiz und China 23 hauptamtliche Mitarbeiter:innen daran, Weltverantwortung in und für die Mitwelt, Umwelt und Nachwelt zu ermutigen – weltweit sind es knapp 80 hauptamtlichen und ehrenamtlich tätigen Vertreter:innen. Immer mehr Menschen folgen der Einladung des Weltethos-Projekts, in ihrem Alltag globale Herausforderungen persönlich zu nehmen und sich im Sinne des Projekts Weltethos zu engagieren – so im Herbst 2020 mit dem Mitmachprojekt #ZeichenGegenSpaltung.
- Die Grundlagenwerke sind in insgesamt 40 verschiedenen Sprachen publiziert, darunter in alle Amtssprachen der Vereinten Nationen (Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch) sowie Farsi und Hindi. Dazu gehören
- das Buch „Projekt Weltethos“ (1990 – 17 Sprachen), das Gründungsdokument von Hans Küng und der Gegenentwurf zum „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington 1993;
- die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen (1993 – 21 Sprachen), wesentlich entworfen von Hans Küng auf der Basis jahrzehntelanger Grundlagenforschung und eines Konsultationsprozesses mit über 100 Religionsforschern und -vertretern. Sie nennt Kernelemente eines gemeinsamen Menschheits-Ethos: das Prinzip Menschlichkeit, die Goldene Regel und die vier Werte Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft der Geschlechter.
- „A Universal Declaration of Human Responsibilities“ des InterAction Council of former Heads of Government and States unter der Führung von Helmut Schmidt (1997 – 40 Sprachen) – die von Hans Küng verfasste säkulare Zwillingsschwester der Erklärung von 1993, die auch mit The Vienna Declaration: Putting Global Ethical Standards into Practice in a Dangerous and Divided World 2014 fortgeführt wurde;
- das Manifest “Global Economic Ethic – Consequences for Global Businesses” (2009 – 5 Sprachen), das 2012 die Gründung des Weltethos-Instituts unter der Leitung von Claus Dierksmeier inspirierte.
- Zum Projekt Weltethos publiziert haben zahlreiche NobelpreisträgerInnen und Führungspersönlichkeiten aus Religion, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, so Martti Ahtisaari, Kofi Annan, Aung San Suu Kyi, Bartholomäus I., Ulrich Beck, Eugene Borowitz, Hassan von Jordanien, Horst Köhler, Teddy Kollek, der Dalai Lama, Lew Kopelew, der Dalai Lama, Berthold Leibinger, Jonathan Magonet, Rigoberta Menchu, Yehudi Menuhin, Mary Robinson, Jeffrey Sachs, Helmut Schmidt, Otfried Höffe, Shu–Hsien Liu, Dieter Senghaas, Frank-Walter Steinmeier, Hans Tietmayer, Desmond Tutu, Peter Ulrich, Carl Friedrich von Weizsäcker, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Richard von Weizsäcker und Elie Wiesel.
- Bislang 14 Weltethos-Reden wurden gehalten unter anderem von den Friedensnobelpreisträger:innen Shirin Ebadi, Desmond Tutu und Kofi Annan sowie den Bundespräsidenten Horst Köhler und Frank-Walter Steinmeier.
- Die Idee hat Initiativen, Stiftungen und Institutionen inspiriert:
- Seit 1995 in Deutschland und seit 1996 in der Schweiz fördern Weltethos-Stiftungen Forschung, Bildung und Umsetzung der Weltethos-Idee. Weltethos-Initiativen und -Partnerschaften gibt es auf allen Kontinenten, so seit 2005 in Österreich. Finanziert sind sie über private Stiftungen sowie über Drittmittel.
- Über Weltethos-Schulen und über das worldlab, dem Labor für gelebte Demokratie hat die Tübinger Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung bis 2020 über 14.000 Schülerinnen und Schüler in Berührung mit den Weltethos-Ideen gebracht. Dabei lernen sie, Werte zu reflektieren, Diversität zu leben und die Demokratie lebendig mit zu gestalten.
- Seit 2012 widmen sich das Weltethos-Institut an der Universität Tübingen und das Weltethos-Institut an der Běidà Universität Peking der Begründung und Anwendung des Weltethos in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
- In Tübingen fanden seit 2012 über 1600 Studierenden in Seminaren und Vorlesungen Räume des gemeinsamen Lernens. Seit dem Sommersemester 2020 vergibt das Weltethos-Institut zusammen mit der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät das Zertifikat „Weltethos in Unternehmen und Organisationen“. Hinzu kommen Konferenzen, Kooperationen und Kolloquien wie das alljährliche Kolloquium zur transformativen Lehre oder das Weltethos Ambassador Programm, ein Angebot der Executive Education.
- Am Tübinger Institut ist auch die World Citizen School entstanden, ein Raum selbstorganisierten globalen Lernens für über 350 engagierte Studierende aus über 30 studentischen Initiativen und Social Startups. Aus Initiativen innerhalb der World Citizen School wiederum sind eigenständige Vereine hervorgegangen wie die alljährliche Menschenrechtswoche Tübingen und der Verein nez e.V., der mittlerweile für Hochschulstandorte in ganz Baden-Württemberg jedes Wintersemester eine Erstsemesterakademie für Nachhaltige Entwicklung organisiert.
Ist Weltethos ein religiöses oder säkulares Projekt? Weder noch. Es ist ein Angebot an alle Menschen guten Willens, aus der Geschichte zu lernen – und in der Vielfalt die Wurzeln gemeinsamen und verantwortlichen Handelns zu erkennen. Ja, der Frieden einer menschenfreundlichen Welt ist herausgefordert – aber Humanität ist möglich.
Ich meine: Weltethos ist der Lernprozess, globale Probleme persönlich zu nehmen – zusammen mit Anderen, inspiriert von den großen religiösen und philosophischen Traditionen der Menschheit und in kreativer Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung. Alles kann besser werden!