Tübinger Tagung „Liberalismus der Lebenschancen. Tübinger Perspektiven auf den Fortschritt“ (Dokumentation)

Am 10. Juni 2023 tagten liberale Denker und Lenker aus dem In- und Ausland im Ratssaal des Tübinger Rathauses, um über den Fortschritt der Lebenschancen in Deutschland zu beraten. Die Teilnehmenden, darunter die zwei Tübinger Staatssekretäre Sabine Döring und FDP-Präsidiumsmitglied Michael Theurer sowie mehrere Professoren der Universität, erneuerten liberale Tübinger Traditionen als „Liberalismus der Lebenschancen“. Dieser geht auf Prof. Ralf Dahrendorf zurück, dem Begründer der Soziologie an der Universität Tübingen. Das öffentliche Symposium wurde von der Reinhold-Maier-Stiftung ausgerichtet.

Zum Tagungsbericht der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit geht es hier.

Dieser Bericht des regionalen Fernsehsenders RTF.1 dokumentiert die Tagung:

Tagungsbericht von RTF.1

Ausschreibung: Liberalismus der Lebenschancen: Tübinger Perspektiven auf den Fortschritt

Liberaler Fortschritt heißt frei nach Ralf Dahrendorf und Karl-Hermann Flach „bessere Lebenschancen für mehr Menschen“. Auch die regierende Ampel-Koalition hat sich diesen Fortschritt verpflichtet. Aber unser Land steht unter dem Druck großer Umbrüche: im Systemwettbewerb mit illiberalen Regimen, im Transformationsdruck des Klimawandels und des Artensterbens, unter anhaltendem Vertrauensverlust einer nervösen Bürgerschaft. Zugleich macht der demographische Wandel uns älter und bunter; die Digitalisierung verändert Arbeitswelt, Geschäftsmodelle und Öffentlichkeit; und die Pandemie war ein Stresstest, der uns in den Knochen steckt. Kein Wunder also, dass Umfragen zufolge vier von fünf Eltern glauben, dass es der Generation ihrer Kinder einmal schlechter gehen wird als ihnen.

Aus liberaler Sicht ist das inakzeptabel. Wie können wir den Fortschritt der Lebenschancen gut begründet erneut versprechen? Was sind eigentlich Lebenschancen, und welche demokratische Kultur, welche Wirtschaft, welche Freiheitsrechte fördern sie? Welche Lebenschancen verschwinden für wen, welche neuen Lebenschancen entstehen wo? Müssen wir, wie manche sagen, die Lebenschancen von heute einschränken, um die Lebenschancen von morgen zu schützen? Kurz: Welche Baustellen hat ein leistungsfähiger Liberalismus der Lebenschancen? Darüber wollen wir in Tübingen diskutieren – aus interdisziplinärer Perspektive, in Sorge um die Chancen der Freiheit, und mit Freude an Ideen, die einen widerständigen, lernenden und gestaltungsfähigen Liberalismus stärken können.

Willkommen in Tübingen! Grußwort von Dr. Christopher Gohl

Verehrte, liebe Anwesende,

herzlich willkommen bei unserem Symposium „Liberalismus der Lebenschancen: Tübinger Perspektiven auf den Fortschritt“! Veranstaltet wird es von der Reinhold-Maier-Stiftung, als deren Verwaltungsrat ich Sie begrüßen darf.

Wir tagen im Ratssaal des Tübinger Rathaus, 1435 erbaut, seit 588 Jahre ein Ort Tübinger Bürgerschaft, Regierung und Gerichtsbarkeit. Damit markieren wir den Anspruch, den weltoffenen Geist dieser alten Universitätsstadt mitzuprägen.

Beginnend mit dem Frühhumanismus Philipp Melanchthons, haben sich die Geister dieser Stadt immer wieder den großen Fragen der Weltverantwortung gestellt. Wenige Meter von hier liegt eine Keimzelle des deutschen Idealismus, jenes Zimmer im Tübinger Stift, in dem sich jungen Hegel, Schelling und Hölderlin als Zimmergenossen zwischen 1790 und 1793 für die Ideen der Französischen Revolution begeisterten.

Wenige Meter von hier liegt auch die Wiege der Biochemie, die Schlossküche, in der Friedrich Miescher 1869 die Nukleinsäure, die DNA entdeckte – Fundament moderner Gesundheit und der mRNA-Impfstoffe sowie der grünen Gentechnik künftiger Welternährung.

Hier im Rathaus wirkte nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahrzehnte Walter Erbe als liberaler Stadtrat, zeitweise zugleich Rektor der Universität, später dann erster Vorstandsvorsitzender der neugegründeten Friedrich Naumann Stiftung.

Und in fußläufiger Nähe wirkte in den 1960er Jahren dann auch der junge Ralf Dahrendorf, der an seiner „Traumuniversität“ das Institut für Soziologie begründete.

Mit dieser Tagung heute wollen wir an die Tübinger Traditionen freiheitlichen Denkens, freiheitlicher Forschung im Dienste von Humanität und Liberalität anknüpfen und sie als einen „Liberalismus der Lebenschancen“ erneuern.

„Mehr Lebenschancen für mehr Menschen“: das war für Ralf Dahrendorf Maßstab liberalen Fortschritts. „Lebenschancen sind die Backformen menschlichen Lebens in Gesellschaft, sie bestimmen, wie weit Menschen sich entfalten können“, schrieb Dahrendorf 1979. Sie seien „Möglichkeiten des individuellen Wachstums, der Realisierung von Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen“, einerseits bereit gestellt durch soziale Bedingungen, durch die herrschenden Verhältnisse – aber eben auch gestaltbar: Aufgabe liberalen Fortschritts.

Damit sind Lebenschancen so etwas wie die kleinen, alltäglich und konkret nutzbaren Freiheiten eines selbstbestimmten Lebens – wir denken zum Beispiel an kleine Schulklassen, staufreie Straßen, pünktliche Züge, einfache Steuererklärungen, gut funktionierende Ämter und eine sichere Rente. Aber in Zukunft auch bezahlbarer, klimaneutraler Strom, Biotech-Lösungen, die uns gesund machen und KI-Lösungen, die unser Leben verbessern, statt uns zu entmündigen.

Auch die Ampel-Koalition will ‚mehr Fortschritt wagen‘. Aber in Deutschland macht sich Angst vor der Zukunft breit. Mittlerweile glauben vier von fünf Eltern, dass es der Generation unserer Kinder einmal schlechter gehen wird als uns heute.

Drohen durch Klimawandel, Systemwettbewerb, Digitalisierung, demographischen Wandel oder auch durch ideologische Politik der Rückschritt der Lebenschancen? Das wäre für Liberale nicht hinnehmbar.

Genau so wenig hinnehmbar wie der Befund, dass Lebenschancen in Deutschland nach wie vor deutlich von der Lotterie der Geburt geprägt sind.

Grund genug für Liberale, genau hinzuschauen, was bei Lebenschancen richtig und was falsch läuft. Darauf wollen wir uns heute besinnen und Baustellen, Prioritäten eines Liberalismus der Lebenschancen diskutieren.

Zwei von drei liberalen Staatssekretären aus Tübingen sind heute hier –

  • herzlich willkommen Michael Theurer vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr, Mitglied des FDP-Präsidiums, Landesvorsitzender der FDP, ein feiner Freier Demokrat und ein feiner Mensch: Er wird gleich ein Grußwort sprechen.
  • Die Tübinger Freiheits-Philosophin Sabine Döring diskutiert heute mit uns – sie ist seit wenigen Monaten parteilose Staatssekretärin im FDP-geführten Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und warb in ihrer Freiburger Dahrendorf-Rede letztes Jahr für ein liberales Verständnis von Gemeinwohl. Herzlich willkommen daheim in Tübingen!

Wir wünschen beiden, dass Sie den liberalen Kompass der Ampel mit unseren Ideen stärken können.

Weitere Tübinger Professoren sind vielfache Rat- und Impulsgeber der Liberalen im Land.

  • Ich begrüße sehr herzlich Prof. Helmut Haussmann, vormaliger FDP-Generalsekretär und Bundeswirtschaftsminister der deutschen Einheit im dritten Kabinett Kohl – wie auch Sabine Döring einer der Ideengeber der heutigen Tagung.
  • Ich freue mich auf die Diskussion gleich mit Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne vom Tübinger Lehrstuhl für Stadt- und Regionalentwicklung, ein exzellenter, viel publizierter Dahrendorf-Kenner und Erneuerer. Mit ihm und seinem Kollegen Dr. Karsten Berr durfte ich unsere Veranstaltung immer wieder konzeptionell planen – danke dafür!
  • Ich freue mich auf die Diskussion heute nachmittag mit dem Philosophen Prof. Claus Dierksmeier und dem Staatsrechtler Prof. Martin Nettesheim. Prof. Nettesheim ist ein wichtiger Ratgeber der Liberalen im Bundestag. Prof. Dierksmeiers Verständnis von Freiheit und Lebenschancen prägten besonders die FDP-Grundsatzdebatte 2010-2012 und die Hinwendung zur „Chancenpolitik“.

Aber wir wollen nicht nur im eigenen Saft kochen. Ich begrüße deshalb in Tübingen

  • Isabel Fezer, Bürgermeisterin für Jugend und Bildung der Landeshauptstadt Stuttgart, Vorsitzende der Reinhold-Maier-Stiftung – gleich auch im ersten Panel,
  • zusammen mit Irene Schuster, der Tübinger FDP-Ortsvorsitzenden und Gründungsvorsitzenden des Bundesverbands der Liberalen Vielfalt e.V., eine Initiative von Liberalen mit Migrationshintergrund.
  • Prof. Dr. med. Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich- Naumann-Stiftung für die Freiheit und Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung
  • Annett Witte, Hauptgeschäftsführerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, aus Potsdam,
  • Prof. Dr. Stefan Kolev, als Leiter des neu gegründeten Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft das ordoliberale, ordnungspolitische Gewissen in Berlin
  • Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin der SPD-nahen Denkfabrik Dezernat Zukunft in Berlin
  • und PD Dr. phil. Ines Soldwisch vom Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit von der RWTH Aachen.

Vor allem begrüße ich sehr herzlich

Teilnehmende aus dem gesamten Bundesgebiet – von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bis München, der Schweiz und Österreich,

darunter besonders gerne die Mitglieder der Kommission Freiheit und Ethik, nicht nur die beste Annäherung an eine Grundsatzkommission, die die FDP hat, sondern auch der schönste Ort engagierten Streits über liberale Verantwortung für die Freiheit, den ich kenne!

Liebes Plenum, liebe Panelisten, ich glaube, eine Politik der Lebenschancen erfordert weit mehr als nur Optimismus und ein Bekenntnis zu Startchancen durch Bildung. Das allein ist billig.

Sondern wir müssen uns für die kleinen, alltäglichen Freiheiten interessieren, die es in Städten, Gemeinden und Nachbarschaften, in Schulen, Handwerksbetrieben und Volkshochschulen, in Ämtern und Forschungslaboren, in Unternehmen und Vereinen gibt.

Ich glaube also, dass Lebenschancen nicht nur rechtlich strukturiert oder politisch bestimmt, sondern immer auch sozial-kulturell und örtlich-ökologisch eingebettet und geprägt sind. Also auch: dass Lebenschancen stets gefährdete, nie ganz gewonnene Freiheiten sind. Nie einfach gegeben, sondern immer aufgegeben – stete zivilisatorische Sisyphos-Arbeit für Liberale.

Ich glaube, dass deshalb zu einer Politik der Lebenschancen immer zwei Dinge gehören:

  1. Der Wille von Beteiligten in allen Sektoren, freiheitliche Verantwortung für diese Freiheiten miteinander und füreinander zu übernehmen – prinzipielle, wertgebundene Verantwortung für die Produktion von Lebenschancen.
  2. Empirische Erkundungs- und Anpassungsprozesse, welche Freiheiten der einen wie dauerhaft auf die Freiheit von anderen wirken – oder wie wir für wen welche Freiheiten besser, dauerhafter gewährleisten können. Also offene Such-, Lern- und Korrekturprozesse in der Demokratie, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Bürgerschaft.

Vielleicht sind das im Popper’schen Sinne „kühne Thesen“. Aber das Schöne ist, dass wir diese und andere Thesen heute pragmatisch miteinander diskutieren in einem fortlaufenden Gespräch zu vier Fundamenten und Politikfeldern: (1) Bildung und Sozialraum; (2) Liberale Demokratie; (3) Soziale Marktwirtschaft; und (4) Recht. Moderieren werden Dr. Karsten Berr und ich.

Widerspruch hilft der Erkenntnis und dem Fortschritt. In diesem Sinne wünsche ich unseren heutigen Such- und Lernprozessen viel Erfolg – und uns allen Freude an einem guten Tag für den Liberalismus der Lebenschancen!

Programm

09:00 Registrierung und Begrüßungskaffee

09:30 Herzlich willkommen! Grußwort

  • Dr. Christopher Gohl, Mitglied des Verwaltungsrates der Reinhold- Maier-Stiftung, Vorsitzender der Kommission Freiheit und Ethik der FDP
  • Michael Theurer MdB, Vorsitzender der Freien Demokraten Baden- Württemberg, Mitglied des Verwaltungsrates der Reinhold-Maier-Stiftung

09:45 Lebenschancen als Lebensweltchancen: Freiheiten durch Schule, Bürgerschaft und Lebensort?

  • Isabel Fezer, Bürgermeisterin für Jugend und Bildung der Landeshauptstadt Stuttgart, Vorsitzende der Reinhold-Maier-Stiftung
  • Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne, Lehrstuhl für Stadt- und Regionalentwicklung, Universität Tübingen
  • Irene Schuster, Bundesvorsitzende der Liberalen Vielfalt; Lehrerin

11:15 Kaffeepause

11:30 Lebenschancen: Das Gemeinwohl einer lernenden Demokratie?

  • Prof. Dr. med. Ludwig Theodor Heuss Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich- Naumann-Stiftung für die Freiheit, Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung
  • Staatssekretätin Prof. Dr. Sabine Döring Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung

13:00 Mittagspause

14:00 Soziale Marktwirtschaft als Ort und Garant von Lebenschancen?

  • Annett Witte, Hauptgeschäftsführerin der Friedrich-Naumann- Stiftung für die Freiheit
  • Prof. Dr. Stefan Kolev, Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin
  • Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin Dezernat Zukunft, Berlin

15:30 Kaffeepause

16:00 Das Bundesverfassungsgericht zu Lebenschancen künftiger Generationen im Klimawandel: Schutz durch eine Bilanz der Freiheitsrechte?

  • Prof. Dr. Martin Nettesheim, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, Universität Tübingen
  • PD Dr. phil. Ines Soldwisch, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit, RWTH Aachen
  • Prof. Dr. Claus Dierksmeier, Lehrstuhl für Globalisierungsethik, Universität Tübingen

17:30 Schlusswort

Gesamtmoderation: Dr. Christopher Gohl und Dr. Karsten Berr

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