Der schwankende Liberalismus

Die FDP taumelt mal wieder. Die letzte Wahl in Niedersachsen steht in einer traurigen Tradition: Niederlage folgt auf Niederlage. Die Analysen in den politischen Medien, an den Stammtischen und bei Twitter überschlagen sich. Sie sind sich in einem Punkt einig: mit der FDP geht es bergab, weil sie ihre eigenen Werte nicht durchsetzen kann oder will. So weit, so einig. Dann gehen die Differenzen aber auch schon los: was sind denn die eigenen Werte der FDP?

Konservative Medien prangern die Überschuldung, die LGBT-Politik, das Mittragen von Corona-Maßnahmen oder bereits die Tatsache an sich an, mit SPD und Grünen zu koalieren.

Progressive („liberale“) Medien prangern libertäres Gedankengut, das Bestehen auf der schwarzen Null, die Energiepolitik, unsoziale Äußerungen („Gratismentalität“) und allgemein Äußerungen von Kubicki an.

Natürlich verraten diese Analysen viel über die Analysten selbst, aber sie verraten auch viel über ein grundlegendes Problem der FDP: zwischen den Stühlen zu sitzen und ein nur schwer wahrnehmbares eigenes Profil zu haben. Die FDP wird von beiden politischen Seiten – rechts wie links – vereinnahmt und als verlängerter Arm der eigenen politischen Interessen angesehen. Die konservative Seite sieht die Wirtschaftsfreundlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit und greift in der FDP das an, das den eigenen konservativen Interessen widerspricht. Die linke Seite sieht die liberale Gesellschaftspolitik und greift das an, was den eigenen linken Interessen widerspricht.

Dieser Riss geht nicht nur durch die Reihen der außenstehenden Beobachter, er geht auch durch die Partei selbst. Viele Konservative sind in der Partei, weil sie zwar über einen traditionellen Wertekanon verfügen, aber nicht unbedingt die CDU wählen wollen, weil diese zu christlich ist oder warum auch immer. Viele Progressive sind in der Partei, weil sie die Gesellschaft freier und liberaler machen wollen, aber damit keinen Sozialismus verbinden wollen.

Das Grundproblem ist auf beiden Seiten das gleiche: politische Ideen von rechts und links werden in die FDP hineinprojiziert. Das heißt nicht, dass diese Ideen mit dem Liberalismus nicht vereinbar wären. Aber sie entstammen ihm oft nicht. Die FDP wird so in vielen politischen Themen zum Vehikel rechter oder linker Ideen. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, wenn die FDP sich dem jeweils anderen politischen Ende zuneigt. 1969 traten Konservative aus der FDP aus, weil die Koalition mit der CDU verlassen wurde, 1982 traten Sozialliberale aus der FDP aus, weil die Koalition mit der SPD verlassen wurde. Den einen ist die FDP nicht rechts und konservativ genug, den anderen nicht links und progressiv genug.

Die liberale Säule

Ich lebe seit einigen Jahren in den Niederlanden, ein Land, in dem der politische Liberalismus seinen festen Platz hat. Im Unterschied zu Deutschland. Traditionell spricht man hier von den „Säulen“ der politischen Landschaft und meint damit neben einer christlich-konservativen (aufgespalten in katholisch und reformiert) und einer sozialdemokratisch-linken Säule eine liberale Säule.

Man kann trefflich über dieses Bild streiten, und die Forschung steht diesem Bild sehr kritisch gegenüber. Einen Vorteil gibt es bei diesem Bild jedoch und den sollte der deutsche Liberalismus ins Auge fassen: das Selbstverständnis einer eigenständigen politischen Kraft.

Genau daran hapert es der FDP, weswegen sie oft als schwankend und schlingernd wahrgenommen wird – und es auch oft ist. Diese schlingernde Unsicherheit hat nichts mit der Größe einer 5- oder 10-Prozent-Partei zu tun. Bei anderen Parteien dieser Größenordnung ist eine derartige Unsicherheit nicht spürbar. Bei der FDP schon, und das sollte einem zu denken geben.

Es ist eine Frage des Selbstbewusstseins. Und das meint hier: der Selbstwahrnehmung als eigenständige politische Kraft. Der FDP wird vorgeworfen, gute Oppositionsarbeit machen zu können, aber keine gute Regierungsarbeit. Da ist vielleicht mehr Wahres dran, als der FDP lieb sein kann. Denn die Sache ist die: In der Opposition kann man auf die Themen gehen, die einem gefallen und dann auch schnell gute Punkte setzen. Wenn man hingegen in der Regierung sitzt, werden die Themen von der Realität auf den Tisch geknallt und man muss reagieren. Und wenn man dann keinen guten inneren Kompass besitzt, kommt man schnell ins Schlingern. Genau das wird wahrgenommen und entsprechend quittiert – von den Medien und vom Wähler.

Liberale Grundlage

Was ist die inhaltliche Grundlage der FDP? Es ist das liberale Menschenbild, wie es ganz wesentlich in der Europäischen Aufklärung entwickelt worden ist. Dieses besteht aus dem Glauben, dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde besitzt, dass er in Freiheit über sein Leben bestimmen kann und dass er dazu aufgerufen ist, sich in seiner Vernunft am Aufbau der Gesellschaft zu beteiligen.

Dies ist die Grundlage des Liberalismus und von dieser Grundlage aus muss die FDP die einzelnen politischen Felder angehen. Das bedeutet, dass beispielsweise die Förderung des freien Marktes genauso wie die Freigabe von Cannabis nur eine Konsequenz des liberalen Menschenbildes sind, nicht aber dessen Grundlage. Das Problem: wenn das verwechselt wird, beginnt das Schlingern, weil die einzelnen konkreten Äußerungen nicht miteinander kompatibel scheinen.

Nehmen wir das Beispiel Cannabis: die geforderte Freigabe stößt auch parteiintern auf harte Kritik konservativer Liberaler, die zurecht auf die große rechtsstaatliche Tradition des Liberalismus verweisen, mit der diese Freigabe nicht kompatibel erscheint. Beide Seiten – Rechtsstaat und Cannabis – müssen nun vom liberalen Menschenbild her begründet werden und nicht nur für sich: Rechtsstaat heißt eben nicht: alle Gesetze und Rechtsvorstellungen sind ewig gültig, sondern: es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, den einzelnen Bürger zu schützen. Wie erfüllt der Rechtsstaat dieses Bedürfnis in Bezug auf Cannabis? Wo muss er sich ändern, wo nicht? Andererseits darf man in Bezug auf die Freigabe von Cannabis nicht nur auf die Partyszene zielen, sondern muss fragen, wie eigentlich der Mensch in seiner Eigenverantwortung in Bezug auf Drogen und allgemein Rauschmittel zu denken ist: gibt es Grenzen einer Eigenverantwortung und wo liegen sie?

Diese Auseinandersetzungen finden zu wenig statt bzw. werden zu wenig nach außen getragen. Dies vermittelt dann den (wohl oft berechtigten) Eindruck, dass einzelne Thesen aus einem bloßen Bauchgefühl heraus verkündet werden, mal nach rechts, mal nach links geblinkt, aber nicht auf einer gemeinsamen Grundlage.

Nehmen wir das Beispiel Ukrainekrieg. Hier wohnen zwei Seelen in des Liberalen Brust: die Wirtschaft und die Freiheit. Die Ausrichtung auf die Wirtschaft verlangt, möglichst schnell einen Ausgleich mit Russland zu schaffen, um wieder auf russische Rohstoffe zugreifen zu können. Dies haben in dieser Deutlichkeit nur wenige FDP-Politiker gefordert, aber es schwingt oft mit. Entsprechend oft wurde nach der Annexion der Krim ein Ende der Sanktionen gegen Russland gefordert. Entsprechend waren die ersten Reaktionen in Bezug auf den Ukrainekrieg oft zurückhaltend und wenig eindeutig.

Mit der Freiheit wird ein liberales Ur-Thema berührt, bei dem man feststellen muss, dass andere Parteien deutlich glaubwürdiger und entschiedener für die Freiheit der Ukraine eintreten (insbes. die Grünen). Dies ist für eine Partei wie die FDP verheerend, die sich in der direkten Nachfolge der liberalen Parteien des 19. Jahrhunderts sieht, die für die Abschaffung der Monarchien und Kleinstaaten und für ein demokratisches und freies Deutschland gekämpft haben und damit groß wurden.

In diesen Feldern wird deutlich, dass eine Bindung an das Kernthema fehlt: das liberale Menschenbild. Aus dem folgen alle anderen Themen, nicht umgekehrt. Dies wird am deutlichsten beim Thema Wirtschaft. Die FDP ist im Vergleich zu anderen liberalen Parteien im europäischen Ausland in den vergangenen Jahrzehnten deutlich stärker auf das Thema Wirtschaft fokussiert. Wenn man den Erfolg dieser anderen Parteien mit dem der FDP in Deutschland vergleicht, muss man schon die Frage stellen, ob der deutsche Weg der richtige ist.

Mentalität

Es ist jedoch nicht nur eine Frage des Erfolgs, es ist auch eine Frage des Inhalts: was ist das eigentliche Ziel der Partei? Was ihre Vision? Und da ist es dürftig, wenn vorrangig die Förderung der Wirtschaft als das große Ziel wahrgenommen wird. Weil es einfach substantiell wenig ist und weil es unsicher und schlingernd in anderen inhaltlichen Gebieten macht, die mit dem Thema Wirtschaft nicht viel zu tun haben.

Eine Partei wird gewählt, weil man ihre Grundlage teilt, ihre Grundhaltung, ihre Mentalität. Es geht bei Wahlen eigentlich selten um konkrete politische Maßnahmen, sondern zumeist um den inneren Kompass einer Partei: stimmt das Weltbild der Partei mit dem eigenen Weltbild überein? Hat die Partei eine Idee vom Menschen, die ich verwirklicht haben möchte? Die FDP hatte sich inhaltlich eigentlich immer gut aufgestellt, aber die Mentalität nicht rüberbringen können. Weil sie selbst nicht genug an ihr gearbeitet bzw. sie ihr eigenes Fundament aus den Augen verlor.

Die FDP wird als unsicher und schlingernd wahrgenommen. Und deshalb nicht gewählt. Es gibt nichts Tödlicheres an der Wahlurne, als wenn der Wähler bei einer Partei Unsicherheit spürt.

Diese Unsicherheit gilt auch unabhängig vom jeweiligen Führungspersonal. Sie ist kein personales, sondern ein liberales Problem: der Liberalismus tut sich immer deutlich schwerer als andere politische Richtungen, eine Mentalität rüberzubringen, vielleicht weil jede Art von Mentalität bereits als zu festgelegt und damit als unliberal gilt.

Eine Mentalität zu formen, muss nicht bedeuten, ein starres, bis in die kleinsten Facetten durchdekliniertes Weltbild zu haben. Aber es bedeutet, einen für sich und andere wahrnehmbaren Grund zu haben, auf dem alles andere aufbaut, eine Haltung, einen inneren Kompass. Diesen besitzt der Liberalismus in einer bestimmten Sichtweise auf den Menschen und die Welt. Die FDP muss sich diesen inneren Kompass wieder erarbeiten, wenn sie nicht als schlingernd und unsicher und damit unwählbar wahrgenommen werden will.

Die FDP will aus der Perspektive des einzelnen Menschen die Gesellschaft gestalten. Und dazu muss sie auch sagen, was sie über den einzelnen Menschen und die Gesellschaft denkt. Dann kann gestaltet werden, im wahrsten Sinn des Wortes: selbstbewusst.

About Michael Rasche

PD Dr. Dr. Michael Rasche ist tätig als Dozent für Philosophie und Unternehmensberater. 2015/16 hatte er die Professur für Philosophische Grundfragen der Theologie an der KU Eichstätt-Ingolstadt inne. Seit 2016 ist er Mitglied der FDP und dort tätig im NRW-Landesfachausschuss "Offene Gesellschaft" sowie im Bundesfachausschuss "Ethik und Freiheit". Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Rotterdam in den Niederlanden. Weitere Informationen zu Michael Rasche: www.michaelrasche.eu.

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