Was meinen wir mit liberaler Ethik? – Thesen zur Arbeit der Kommission Freiheit und Ethik 2022

Liberale Ethik ist der Versuch, mit grundsätzlichen Maßstäben vernünftig und verantwortlich zu beurteilen, was liberale Politik besser tun sollte. Dafür kann sie praktische liberale Politik begründen, beraten und bekräftigen oder auch kritisieren und korrigieren. Als praktische Verantwortungsethik geht es liberaler Ethik darum, die Folgen von Entscheidungen für das freiheitliche Zusammenleben und für die Partei der Freiheit zu bewerten- nicht nur im Parlament bei der Gesetzgebung, sondern auch in der Partei bei der Willensbildung, in der Öffentlichkeit bei der Kultivierung verantwortlichen Miteinanders und sogar in Bezug auf bestimmte, bürgerschaftliche Selbstverständlichkeiten der Lebensführung im freiheitlichen Zusammenleben.

Liberale Ethik ist zugleich politische Ethik und Freiheitsethik

Liberale Ethik ist die vernünftige und systematische Beschäftigung mit moralischen Gefühlen, sittlichen Traditionen, moralischen Normen und politischer Gesetzgebung aus der Perspektive der Freiheit. Ihr grundsätzlicher Zweck ist die Gewährleistung freiheitlichen Zusammenlebens.

Als politische Ethik respektiert sie die Pluralität der Vorstellungen des guten Lebens als gegeben: Jeder soll nach eigener Façon selig werden. Als freiheitliche Ehik will sie die Bedingungen des guten, das heißt: auf Dauer gelingenden freiheitlichen Zusammenleben gewährleisten. Deshalb interessiert sie sich für die

  • Freiheitsfähigkeit von Bürgerinnen und Bürgern, also für Voraussetzungen der inneren Freiheit und für die Kultivierung Fragen politischer Tugenden wie z.B. der Liberalität (liberalitas) oder Dialogfähigkeit.
  • die Freiheitschancen von Bürgerinnen und Bürgern und
  • die Freiheitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern, also die Freiheit von der Willkür des Staates und seinen Mehrheitsentscheidungen

Konkrete Ziele hat sie in der Bestimmung richtigen und gerechten freiheitlichen Handelns. Richtiges, das heißt der konkreten Situation und der Dauerhaftigkeit freiheitlichen Zusammenlebens angemessenes, gerecht wirkendes Handeln bedarf der konkreten Bestimmung, so im Umgang mit Dilemmata von Konflikten verschiedener Güter und Freiheiten und der Gestaltung von gesellschaftlichen Umbrüchen, die von Megatrends geprägt werden. Als politische, zeitgeschichtlich engagierte Ethik adressiert die liberale Ethik besonders Prioritäten und Prinzipien der Bearbeitung von Wert- und Interessenskonflikten, die sich in einer von Pluralismus und Globalität geprägten Gesellschaft ergeben.

Wozu dient unsere Kommission Freiheit und Ethik in der FDP?

Die Mission (der Auftrag) der Kommission Freiheit und Ethik ist die Beratung des Bundesvorstands (und über ihr indirektes Antragsrecht über den Bundesvorstand auch den Bundesparteitag) zu Themen liberaler Ethik (Grundsätze, Grundsatzprogrammatik, Beratung bei Dilemmata). Die Beratung kann auf Nachfrage erfolgen oder in eigenständiger Initiative. Dafür konsultiert sie Fachleute und Fachpolitiker, arbeitet Diskussionen in Positionspapieren auf und erarbeitet Anträge. Die Vision der Kommission Freiheit und Ethik ist es, auf zentralen wie auf neu entstehenden Politikfeldern liberale Ideale in eine so weitsichtige wie praktische Agenda der FDP umzusetzen. Im Laufe der Zeiten gilt es immer wieder vernünftig und grundsätzlich zu prüfen und zu begründen, was aus liberaler Sicht zu tun gut und richtig ist. Wir wollen die Urteilskraft politischer Entscheiderinnen und Entscheider dazu stärken, was aus Sicht der Gewährleistung der Freiheit der Einzelnen mindestens erlaubt, gar wünschbar oder sogar geboten sein könnte.

Themen und Motive liberaler Ethik in der Kommission

Themen und Motive liberaler Ethik finden sich in drei Bereichen, die zusammenhängen:

  • 1. Grundsätze: Liberale Werte und Prinzipien finden sich einerseits in den philosophischen Traditionen des Liberalismus, andererseits im Leitbild der FDP „Mehr Chancen durch mehr Freiheit“. Demnach ist der Auftrag der FDP die Gewährleistung von Lebenschancen mit freiheitlichen Mitteln, wie das auch im Grundsatzprogramm „Verantwortung für die Freiheit. Karlsruher Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürgergesellschaft“ von 2012 beschrieben wird: Freiheitsordnungen für alle (Ordnungspolitik) und Chancen für jeden Menschen (Chancenpolitik) führen zum Fortschritt in fairer und verantworteter Freiheit.
  • 2. Grundsatzprogrammatik: Was sind die langfristigen Auswirkungen von nicht tagesaktuellen Entwicklungen („Megatrends“ wie zum Beispiel Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel oder demographischer Wandel) auf unser freiheitliches Zusammenleben: Auf Lebenschancen, wie sie in Freiheitsrechten formal geschützt, von Betroffenen als sinnvoll wünschenswerte und nutzbare Freiheiten erlebt und von Freiheitspolitik Politik als Auftrag begriffen werden?
  • 3. Beratung bei Dilemmata: Was sollten wir in konkreten Fällen tun, wenn verschiedene Freiheiten einander ausschließen oder liberale Werte, Prinzipien und für Liberale typische moralische Intuitionen (z.B. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Mitgefühl mit Leidenden, Fairness durch Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit, Optimismus, Skeptizismus, Respekt vor der Autorität freiheitlich gesetzten Rechts etc.) miteinander konkurrieren, wie zum Beispiel bei Fragen der Sterbehilfe, der Tierethik oder der Impfpflicht?

Bisher kontrovers diskutierte Themen sind zum Beispiel:

  • Verantwortungsethische Einordnung der Impfpflicht
  • Digitale Ethik / Ethik der Digitalisierung
  • Bio- und Medizinethik
  • Liberale Demokratie unter Druck
  • Zukunft Sozialer und ökologisch verantwortlicher Marktwirtschaft
  • Ethik nachhaltiger Entwicklung (Umwelt- und Klimaethik)
  • Fleischkonsum zwischen Landwirtschaft, Tierrechten, CO2-Preisen und Verbraucherinteressen
  • Gegenstand

Moralische Gefühle, Vorstellungen und Moralismus – eine liberale Einordnung

Gegenstand liberaler Ethik sind freiheitliche Moralvorstellungen, die den praktischen Gebrauch unserer Freiheit miteinander und füreinander regulieren

  • auf individueller Ebene in Formen des Gewissens oder der Tugenden;
  • auf gemeinschaftlicher Ebene über Sitten und Konventionen;
  • und auf gesellschaftlicher Ebene als Leitmotive freiheitlicher Gesetzgebung.

Die Evolution hat Menschen mit moralische Intuitionen und Gefühlen ausgestattet. Nach dem Stand der Forschung sind diese aber unterschiedlich verteilt. Wie Menschen moralische Intuitionen ausleben, ist eine Frage der Sozialisation in vorherrschende Moralvorstellungen, aber auch eine Frage des Comments der Vernunft, der die liberale Öffentlichkeit kennzeichnet. Wir respektieren den Pluralismus der Moralvorstellungen, aber wir messen sie an ihrem Beitrag zum freiheitlichen Miteinander in friedlicher Vielfalt.

Deshalb weisen wir Moralismus zurück. Moralismus heißt, die eigenen moralischen Intuitionen oder Vorstellungen zu verabsolutieren. Moral ist also nicht, wie eifernde Moralisten das vertreten und eilfertige Kritiker es ihnen glauben, das Ende des bürgerschaftlichen Gesprächs. Sondern dessen Anfang. Bestimmte Normen, Formen und Regeln mögen sich ja in der Vergangenheit dabei bewährt haben, ein gutes Leben zu gewährleisten. Aber ob sie das heute noch tun, ist dann durch eine systematische und vernünftig betriebene Ethik zu hinterfragen und zu überprüfen. Denn natürlich hat die Moral auch immer bestimmten religiösen, wirtschaftlichen oder kulturellen Interessen und Machtverhältnissen gedient. Und ethisch wäre dann zu fragen, welche moralische Verhaltensweisen warum und wie Affirmation und Fortsetzung oder Kritik und Korrektur verdienen.

(Ausführlicher dazu: Liberalismus: Ja zu moralischen Gefühlen – Nein zum Moralismus.)

Zum emanzipativen Potenzial liberaler Ethik

In der Ethik steckt also schon immer emanzipatives Potenzial: Moralische Ansprüche werden reflektiert, gewägt und beurteilt. Ethik ist eine Chance, uns aus den Irrgärten, Fallgruben und Mauern der bisherigen Moral zu befreien. Ethik dann als liberale Verantwortungsethik zu begreifen, steigert die Chancen der Ethik, befreiend zu wirken. Liberale Verantwortungsethik befreit uns dreifach:

  1. Im ersten Schritt pflegt sie selbst den freiheitlichen Umgang mit moralischen Normen und Formen.
  2. Im zweiten Schritt beurteilt sie den Beitrag moralischer Normen und Formen zu einem freiheitlichen Zusammenleben. Moral war ja garantiert nicht immer freiheitlich, sondern häufig schlicht repressiv.
  3. Und drittens können wir mit Hilfe der Ethik freiheitliche Moralvorstellungen ebenso wie (demokratische) Institutionen und Praktiken, in denen wir moralische Argumente abwägen, stärken und weiter entwickeln. Also: Wir können daran mitwirken, die Normen, Formen und Regeln des freiheitlichen Zusammenlebens zu verändern.

Immer geht es also darum „die Freiheitsbilanz der Gesellschaft (zu) optimieren“ (Lindner 2010). Es ist die Pointe der für das Grundsatzprogramm so prägenden „qualitativen Freiheit“ von Claus Dierksmeier, konkrete Freiheitsrechte und Lebenschancen immer wieder an ihren Beiträgen zur Freiheit aller, auch künftiger Generationen auszurichten (weshalb Nils Markwardt dem Karlsruher Klima-Urteil sogar explizit die Dierksmeier’sche Freiheitsidee unterstellt). Das haben Liberale Ethik und liberale Demokratie gemeinsam: Sie sind Erkundungsprozesse der Bedarfe und Bedingungen der Freiheit der miteinander lebenden Einzelnen.

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