Die Kritik an einem Liberalismus, der sich dem Zeitgeist angeblich anbiedert, kommt in vielen Formen. Keine davon überzeugt mich.
Wer vom Zeitgeist gar nichts wissen will, ist politisch unmusikalisch. Denn der Zeitgeist, das ist der Ausdruck zeitgeschichtlich besonderer Gesinnungen, Haltungen und Stimmungen – die Summe von typischen Erfahrungen und Erwartungen. Nicht nur hat es ihn zu jeder Zeit gegeben, sondern seine erstmalige Thematisierung im Vormärz trifft mit dem Aufkommen liberaler Ideen zusammen. Der Liberalismus selbst ist das Kind eines revolutionären Zeitgeistes der Veränderung, den wir Liberale seither und bis heute in maßvollen und verantwortlichen Formen gegen den stets untoten Geist der konservativen Reaktion vertreten.
Liberalismus sollte den Zeitgeist prägen, nicht zurückweisen. Zwar ist die liberale Idee der Freiheit der Einzelnen für den Liberalismus zentral und zeitlos; aber die Formen dieser Freiheiten sind stets geschichtlich konkret und in Veränderung. Denn wo Menschen frei sind und kreativ handeln, entstehen stets neue Trends. Und die verändern die bisherige Balance der Freiheiten – zum Teil zum Besseren, zum Teil zum Schlechteren. Zwar müssen wir nicht auf jede Mode reagieren. Aber Liberale müssen größere Trends, erst Recht Megatrends wie die zunehmende demographische Diversität oder der ökologische wie politische Klimawandel, verstehen, durchdringen und prägen wollen.
Wer bloß Angst hat vor dem Zeitgeist, ist konservativ. Wer „den Zeitgeist“ fürchtet, der fürchtet Veränderungen der bestehenden Verhältnisse. Zwar leben wir aus liberaler Sicht in guten, sogar immer besseren Verhältnissen. Wir haben sie in freiheitlichen Such- und Lernprozessen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Bürgergesellschaft errungen. Nie ohne Irrtümer – aber der Liberalismus, darauf hat Timothy Garton Ash dieser Tage hingewiesen, gewährleistet genau diese Offenheit der Suche, der (Selbst-)Kritik und Korrektur. Und so leben wir nie in der besten aller Welten. Und die uns gestern gerecht erscheinende Verteilung bewährter Freiheiten ist nie die gerechte und bewährte Verteilung der Freiheiten von morgen.
Wo der Zeitgeist illiberal ist, haben Liberale zu wenig dafür getan, ihn zu prägen. Natürlich gibt es viele unfreiheitliche Strömungen des gegenwärtigen Zeitgeistes. Die einen erkennen einen illiberalen Zeitgeist vorrangig in linker Identitätspolitik, Moralismus und politischer Korrektheit, welche die Offenheit der liberalen Öffentlichkeit mit Minen, Fettnäpfchen und Zäunen untergräbt und einschränkt. Für die anderen steckt der illiberale Zeitgeist rechts in den toxischen Abmischungen von Nationalismus, Autoritarismus und Populismus. Dritte sehen den Marsch in die Unfreiheit in allzu technokratischen, gar ökodiktatorischen Fantasien der Klimabewegung. Aus liberaler Sicht macht Sorge, dass links, rechts und ökologisch Freiheit als selbstbezogener, selbstgerechter Egoismus missverstanden wird, nicht als Chance, kreative Formen gemeinsamer Verantwortung für Lebenschancen zu finden. Der herrschende Zeitgeist ist Gereiztheit, wie sie mit steigender Polarisierung kommt. Weil damit freilich weder Staat noch friedliches Zusammenleben zu machen ist, müssen Liberale bessere Antworten darauf finden und die Verständigung über neue Freiheitsbalancen vorantreiben.
In den einzelnen Strömungen des Zeitgeistes stecken auch Freiheitsversprechen. Das Glas ist auch beim Zeitgeist halbvoll: Hinter den fantasielosen Imperativen linker Identitätspolitik steckt häufig genug ein Wille zu Emanzipation und Machtkritik. Beides sind urliberale Motive, die liberale Dialogfähigkeit begründen. Hinter dem Eifer der rechten Vereinfachung steckt häufig ein Bedürfnis nach Kontrolle von Veränderung und (wie auch bei linker Identitätspolitik) nach Anerkennung. Liberale könnten diese Bedürfnisse mit einem Mix aus Demokratiereformen und staatsbürgerlichem Republikanismus adressieren. Hinter der Radikalität mancher Teile der Klimabewegung steckt die Angst davor, zu spät Veränderungen einzuleiten. Gerade hier macht uns die liberale Kompetenz dialogfähig, über Institutionen und Rahmensetzung dezentrale, dynamische und verantwortliche Veränderungen auszulösen. In allen drei Antworten geht es darum, die Such- und Lernprozesse der verantworteten Freiheit neu zu justieren – die eigentliche, unaufgeregte und beste Antwort des Liberalismus auf die im Zeitgeist sichtbaren Veränderungen.