50 Jahre Freiburger Thesen: Demokratie als bleibender Auftrag

2021 war für die FDP ein Jahr der Besinnung auf soziale und ökologische Traditionen des Liberalismus. Die Beschäftigung mit den Freiburger Thesen von 1971 zeigte, dass diese viel mehr sein könnten als nur ein Dokument der Zeitgeschichte. Denn die Freiburger Thesen bleiben in Stil und Substanz liberaler Auftrag der FDP: Der dialektische Stil ist Quellcode steter Erneuerung. Und die ersten vier Thesen der Einleitung markieren fundamentale und bleibende Aufgaben einer liberalen Partei. Zwei Erbschaften der Thesen aber bleiben vernachlässigt – und beide erfordern sie liberale Demokratiepolitik.

Der Stil: Die wunderschöne Dialektik steter liberaler Erneuerung

Der wunderschöne Stil der Freiburger Thesen liegt in der Dialektik, die das programmatische Denken antreibt, so zwischen prinzipiellem Postulat und praktischer Konsequenz; Demokratisierung und Liberalisierung; Individualität und Pluralität; persönlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Evolution; privater Wirtschaft und liberaler Gesellschaft; oder formalen Freiheitsrechten und echten Freiheitschancen.

Solche Dialektiken haben wir 2012 im FDP-Grundsatzprogramm, den Karlsruher Freiheitsthesen, wieder aufgegriffen. Dessen Teil IV beschreibt sechs widerstreitende Traditionen des Liberalismus, die es immer neu aus zu balancieren gilt. Das ist eine Absage daran, den Liberalismus in einem bestimmten historischen Zustand einzufrieren. Die Anerkennung des dynamischen Charakters liberalen Denkens hat Stefan Kolev dieser Tage auf die berechtigte Forderung zugespitzt, die Rede von einem „klassischen Liberalismus“ zugunsten der Neugier auf „die Geschichte des Liberalismus als eine Sequenz aus Neoliberalismen“ aufzugeben.

Vier Prinzipien: Bleibender Quellcode des Liberalis

Liberale Erneuerung wird dann zur Besinnung auf bleibende liberale Prinzipien, deren Geltung und Wirken zeitgeschichtlich immer wieder neu zu bestimmen ist. Die ersten vier Freiburger Thesen programmieren diesen Prozess steter liberaler Erneuerung mit vier Prinzipien. Andere und weitere sind denkbar, aber diese vier dürften zum fundamentalen Quellcode der liberalen Bewegung gehören.

These 1 widmet sich der Menschenwürde durch Selbstbestimmung.

Das heißt nicht, dass Menschenwürde nur denen zukommt, die sich selbst bestimmen können. Sondern es heißt, dass ein Leben in Würde nicht an Heilsversprechen oder Machtverhältnissen hängen darf, sondern dauerhaft nur gelingen kann, wo Menschen nach eigener Bestimmung leben. Der Verweis von Freiheit und Menschenwürde aufeinander bleibt liberales Fundament. Claus Dierksmeier nennt ihn die „unauflösliche Einheit von Freiheit und Würde, wobei Freiheit der Ursprung der Würde ist und Würde als Zweck der Freiheit dient.“

These 2 formuliert das Prinzip des Fortschritts durch Vernunft.

Epistemologischer Quell liberalen Denkens ist ja die Idee, dass wir Wahrheit nie ganz haben, sondern stets suchen. Karl-Hermann Flach nannte das die Relativitätstheorie des Liberalismus. Steter Vernunftgebrauch, steter Verständigungsprozess führt zu Vorsicht und Verständnis für andere – zu einem steten Lernprozess, in dem wir unsere andernfalls selbst verschuldete Unmündigkeit überwinden und Freiheit finden. Fortschritt heißt dann vernünftige Selbsterneuerung, heißt Freiheit mit freiheitlich angemessenen Mitteln zu verwirklichen.

These 3 schreibt dem Liberalismus die Demokratisierung der Gesellschaft ins Aufgabenheft.

Der bleibende liberale Auftrag zur Zivilisierung von (politischer) Macht ist dem zufolge, Macht so zu organisieren, dass wir die Verhältnisse gemeinsam gestalten können (Demokratisierung), ohne uns gegenseitig zu dominieren (Liberalisierung). Wie Maihofer schreibt: „1. Der Staat sind wir alle; 2. Der Staat darf nicht alles – und analog 1. Der Betrieb sind wir alle; 2. der Betrieb darf nicht alles.“ Liberale Demokratie gelingt also, wo freie, gleichberechtige und selbstwirksame Menschen friedlich miteinander leben und gestaltungsmächtig regieren – und zwar unter Regeln, die zugleich Dominanz über einander verhindern.

These 4 setzt die Reform des Kapitalismus auf die Agenda.

Sie basiert auf der Einsicht, dass der freie Selbstlauf kapitalistischer Tendenzen negative Folgen hat. Wirtschaftliche Dynamiken brauchen deshalb Kanalisierung, um kapitalistische Effektivität mit Humanität zu versöhnen. So wird die Soziale Marktwirtschaft zum Friedensprojekt. Damit grüßen die Freiburger Thesen die Freiburger Schule des Ordoliberalismus: Auch er basiert auf der Einsicht, dass Freiheit nicht selbstverständlich gegeben, sondern als Errungenschaft einer Regulierung aufgegeben ist.

Das vernachlässigte Erbe (1): Liberalismus als Frage der Organisation

Zum vernachlässigten Erbe der Freiburger Thesen gehört zunächst das wiederkehrende Motiv der Organisation einer arbeitsteiligen Gesellschaft und Wirtschaft. Sie lenken unseren Blick damit auf Meso-Fragen interdependenten Zusammenlebens jenseits von Individuum (Mikro) und Staat (Makro). Organisationsfragen sind wichtige, viel zu wenig beantwortete Fragen für einen gesellschaftlich, gemeinschaftlich und genossenschaftlich sprach- und gestaltungsfähigen Liberalismus – und übrigens auch für die Organisationsentwicklung der FDP.

Das vernachlässigte Erbe (2): Demokratischer Liberalismus

Zum vernachlässigten Erbe der Freiburger Thesen gehört zum zweiten der demokratische Liberalismus im Sinne der Thesen 2 und 3. Die fortwährende Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft meint letztlich die stete Optimierung von demokratischen Lern- und Gestaltungsprozessen auf der Suche nach besseren Lebenschancen.

Was heißt das? Zunächst: Lebenschancen sind Lebensweltchancen. Sie sind sinnvoll nutzbare, alltägliche Freiheiten, die (nach der Vorstellung Ralf Dahrendorfs) im Zusammenspiel konkreter Optionen und Ligaturen entstehen. Lebenschancen zu ermöglichen heißt, unfreiheitliche Verhältnisse durch freiheitliche Reorganisation zu überwinden. Aber was genau freiheitliche Verhältnisse voller Lebenschancen sind, und wie wir sie Fortschritt für Fortschritt herstellen: Das lernen wir erst durch Vernunftgebrauch, durch Kritik und Korrektur.

Keine Lebenschancen ohne demokratische Such- und Lernprozesse

Lebenschancen als Ergebnis vernünftiger demokratischer Such- und Lernprozesse: Das meint Ralf Dahrendorf, wenn er dazu aufruft, Wege zur Erweiterung menschlicher Lebenschancen zu erkunden. Das meinen auch Amartya Sen und Claus Dierksmeier, wenn sie die Gestaltung konkreter Lebenschancen in freiheitlichen Prozessen partizipativer Selbstbestimmung einfordern. Und das meint John Dewey, der Demokratie als den intelligenten Feedbackprozess versteht, in dem wir unseren Freiheitsgebrauch über seine Folgen aufklären und in Verantwortung für dauerhaften, auch künftigen Freiheitsgebrauch ausrichten.

Die Freiburger Thesen sensibilisieren uns für diese Voraussetzungen und Zusammenhänge freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens. Die Gesellschaft sind wir alle – wir Freien und Gleichberechtigten, die wir sozial, ökonomisch und politisch teilhaben. Aber die Gesellschaft darf nicht alles – darf soziale, ökonomische und politische Macht nicht missbrauchen. Wie wir aber alle unsere Freiheiten verantwortlich und angemessen gebrauchen, lernen wir erst durch öffentlichen Vernunftgebrauch und (experimentelle) Selbstaufklärung in demokratischen Verfahren.

Freiheitspolitik braucht Demokratiepolitik

Freiheitspolitik für „mehr Chancen durch mehr Freiheit“, wie es im FDP-Leitbild heißt, braucht deshalb Demokratiepolitik: die Sorge um Institutionen, Verfahren und Kultur einer freiheitlichen Demokratie (nach Hildegard Hamm-Brücher). Wie organisieren wir eine arbeitsteilige Gesellschaft freiheitlich? Wie organisieren wir Chancen auf politische Teilnahme, die wiederum über die Chancen ökonomischer und sozialer Teilhabe bestimmt? Denn Fortschritt durch Vernunft gibt es am Ende nur, wo Betroffene sich am demokratischen Vernunft- und Machtgebrauch tatsächlich auch beteiligen können.

Die Demokratie zu schützen und weiter zu entwickeln, heißt, die durch Verfassung und Rechtsstaat gewaltenteilig und föderal organisierte freiheitlich-demokratische Grundordnung gut zu pflegen, etwa: die Subsidiarität der Kommunen und den Föderalismus als Wettbewerbs- und Kooperationsordnung zu stärken. Es heißt auch, Demokratie als Regierungsform besser zu organisieren: So durch Wahlrechtsreformen, durch die Neuorganisation von Beratungen im Parlament mit neuen Formen der Bürgerberatung (etwa durch Bürgerräte, Bürgerplenarverfahren, Hausparlamente, digitale Vorhabenslisten), aber auch durch bessere wissenschaftliche Begleitung und Beratung.

Und es heißt, Demokratie als Lebensform der Freien und Gleichberechtigen vertiefen – mit besserer politischer Bildung; der Entlastung und Entfesselung bürgerschaftlichen Engagements; einer toleranten Öffentlichkeit und vielfältigen Medien; Maßnahmen zur Integration einer selbstbestimmten und vielfältigen, friedlichen und offenen Gesellschaft; mit Selbstbestimmung für Homosexuelle und Transmenschen; sowie durch die Förderung sozialer Innovationen. Liberale Gesellschaftspolitik, der Auftrag der Freiburger Thesen an die FDP, ist in diesem Sinne immer auch: Demokratiepolitik!

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