Realisten wissen: Keine Freiheit ohne Moral, Ethik und Haltung

Über Moral und Ethik wird oft ohne Sinn und Verstand diskutiert. Da stehen auf der einen Seite die selbst ernannten „Pragmatiker“ und „Realisten“, die „freiheitsfeindliche Moral“ und die „schöngeistige Ethik“ verachten. Und auf der anderen Seite gefallen sich Moralisten und Ethiker darin, mit zum Himmel gestrecktem Zeigefinger und einem „Trotzdem“ auf den Lippen in der hässlichen Welt ein reines Herz beben zu spüren. Was für ein Zirkus der Karikaturen!

Moral ist der Anfang der Ethik…

Weder ist „Moral“ stets die schlechtgelaunte Predigt von Besserwissern noch „Ethik“ der realitätsfremde Imperativ von Bedenkenträgern. Sondern „Moral“ ist, funktional gesagt, einfach die Gesamtheit der Normen, Formen und Regeln, mit denen unserer Vorfahren ihr (Über-)Leben nach eigenen Vorstellungen des Guten, Richtgen und Wünschbaren organisiert haben: „Was man so macht, und was nicht.“ Und „Ethik“ ist dann der Versuch, verschiedene Moralvorstellungen zu hinterfragen und zu prüfen, wofür sie Maßstäbe für das Gute, Richtige und Wünschbare entwickelt. Wie die Biologie die Wissenschaft der Lebewesen ist, so ist Ethik der vernünftige und systematische Versuch, Moral zu untersuchen.

Moral ist also nicht, wie eifernde Moralisten das vertreten und eilfertige Kritiker es ihnen glauben, das Ende des bürgerschaftlichen Gesprächs. Sondern dessen Anfang. Bestimmte Normen, Formen und Regeln mögen sich ja in der Vergangenheit dabei bewährt haben, ein gutes Leben zu gewährleisten. Aber ob sie das heute noch tun, ist dann durch eine systematische und vernünftig betriebene Ethik zu hinterfragen und zu überprüfen. Denn natürlich hat die Moral auch immer bestimmten religiösen, wirtschaftlichen oder kulturellen Interessen und Machtverhältnissen gedient. Und ethisch wäre dann zu fragen, welche moralische Verhaltensweisen warum und wie Affirmation und Fortsetzung oder Kritik und Korrektur verdienen.

… und Ethik befreit. Besonders liberale Ethik!

In der Ethik steckt also schon immer emanzipatives Potenzial: Moralische Ansprüche werden reflektiert, gewägt und beurteilt. Ethik ist eine Chance, uns aus den Irrgärten, Fallgruben und Mauern der bisherigen Moral zu befreien.

Ethik dann als liberale Ethik zu begreifen, radikalisiert die Chancen der Ethik, befreiend zu wirken. Liberale Ethik befreit uns dreifach:

  1. Im ersten Schritt pflegt sie selbst den freiheitlichen Umgang mit moralischen Normen und Formen.
  2. Im zweiten Schritt beurteilt sie den Beitrag moralischer Normen und Formen zu einem freiheitlichen Zusammenleben. Moral war ja garantiert nicht immer freiheitlich, sondern häufig schlicht repressiv!
  3. Und drittens – jetzt wird es richtig spannend! – können wir mit Hilfe der Ethik eine freiheitliche Moral stärken oder neu entwickeln. Also: Normen, Formen und Regeln des freiheitlichen Zusammenlebens.

Freiheit – dieses wunderbare menschliche Versprechen, die eigenen Anlagen und Talente entwickeln zu können; das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu dürfen; kreativ die Welt nach eigenen Träumen zu verändern! – diese Freiheit ist letztlich ja nur in Verantwortung vor der und für die Freiheit Anderer denkbar. Sie ist also immer auch „verantwortete Freiheit„. Andernfalls wäre sie Egoismus oder Rücksichtslosigkeit. Und undankbar und unklug obendrein: Weil wir Kinder der Freiheitschancen sind, die Menschen vor uns und für uns errungen haben. Die große gemeinschaftliche Leistung freiheitlicher Gesellschaften ist es, Freiheitsordnungen, Lebenschancen und Verantwortungskultur zu gewährleisten.

Freiheitliche Moral, Ethik und Haltung organisieren freiheitliches Zusammenleben

Denn es ist ja nicht so, dass alle bisherigen Normen, Formen und Regeln freiheitsfeindlich waren. Im Gegenteil: Moderne Moralvorstellungen regulieren schon heute häufig den verantwortlichen Gebrauch unserer Freiheit miteinander und füreinander. Weil wir sie schon oft ethisch reflektiert haben, und weil sie uns zur Haltung geworden sind. Freiheitliche Moralvorstellungen machen die Normen, Formen und Regeln verantworteter Freiheit zur Gewohnheit:

  • auf individueller Ebene in Formen des Gewissens, der Tugenden, der Haltung;
  • auf gemeinschaftlicher Ebene über Sitten und Konventionen;
  • und auf gesellschaftlicher Ebene als Leitmotive freiheitlicher Gesetzgebung.

Freiheitliche Moral beweisen Lehrer*innen und Lehrer, die Schüler*innen im Lernprozess selbstbestimmter Menschen begleiten. Sie lebt im Verhalten Journalist*innen oder Mediziner*innen, die ihren professionellen Aufgaben gerecht werden. Freiheitliche Moral steckt in unseren Rechtsauffassungen genau so, wie sie in religiösen Praktiken der Gewissensbildung auftreten kann. Und sie steckt vielfach in unserer Gesetzgebung, ob für Bildung und Soziales, Arbeitsmarkt und Wirtschaft, Bürgerschaft und Demokratie, Wissenschaft und Kultur oder in der Außenpolitik. – Augenfällig zurzeit: freiheitliche Moral animiert freiwilliges physical distancing. Unsere liberale Gesinnung heißt Verantwortung!

Haltung: Aufrecht stehen aus Erfahrung

Da, wo uns freiheitliche Moral – als die Summe der Normen, Formen und Regeln freiheitlicher Verantwortung, die sich in der Vergangenheit bewährt haben – in Fleisch und Blut übergegangen ist, da entsteht Haltung. Damit meinen wir jene erste, reflexhafte Einstellung, mit der wir Herausforderungen begegnen. Und Haltung ist mehr von der Erfahrung gesättigt als von der Gewissheit. Zu viel Gewissheit macht die Haltung zur statischen Pose.

Denn so wie Moral am Beginn des ethischen Gesprächs steht, steht Haltung nur am Beginn reflektierten Handelns. Haltung entlastet davon, in jeder Situation mit der Reflektion über das Gute, Richtige und Wünschbare ganz bei Null anfangen zu müssen. Sie gibt uns ein erstes Gefühl dafür, was vermutlich gut, richtig und wünschbar sein dürfte – was wir also im bürgerschaftlichen Gespräch dann überprüfen und konkretisieren könnten. Haltung heißt, sowohl (passiv) aufrecht gehalten zu werden von unseren Werten („hier stehe ich, ich kann nicht anders“), als auch (aktiv) für etwas einzustehen, das größer ist als wir selbst – darin eine Form des Ethos.

Demokratie ist praktizierte Ethik

Das bürgerschaftliche Gespräch: Das ist die gemeinsame Verständigung und Beratung darüber, was für uns gemeinsam gut, richtig und wünschenswert ist. Also:

Wie immer man das nennen will. Die Agora der Bürgerschaft und die Akademie der Wissenschaft & Philosophie sind Foren der Untersuchung der Verhältnisse, die einander brauchen, die wir verschränken müssen, die nur zusammen eine kluge, gesamtheitliche, kurz: verantwortliche politische Agenda bestimmen können.

Fazit: Realisten bauen auf Moral, Ethik und Haltung!

  • Liberale Ethik begründet, was aus liberaler Sicht zu tun gut, richtig und wünschbar ist.
  • Die reflektierte Einsichten, die wir dabei gewinnen, sind Bausteine einer freiheitlichen Moral, also bewährter Normen, Formen und Regeln, Gebräuche und Gepflogenheiten freiheitlichen Zusammenlebens. Sie gehören selbst immer wieder auf den ethischen Prüfstand.
  • Realist ist nur, wer anerkennt, dass Ideale und Normen, also: Moral, Ethik und Haltung – grundlegend und selbstverständlich zur Wirklichkeit einer freiheitlichen Gesellschaft gehören. Was für ein gefährlicher Irrglaube, ein freiheitliches Zusammenleben ohne Moral, Ethik und Haltung organisieren zu können!

4 Antworten auf “Realisten wissen: Keine Freiheit ohne Moral, Ethik und Haltung”

  1. Hallo Christopher, ich würde gern Deine Aussage: „Die große gemeinschaftliche Leistung freiheitlicher Gesellschaften ist es, Freiheitsordnungen, Lebenschancen und Verantwortungskultur zu gewährleisten“ erweitern um “ für Gegenwart und Zukunft“ – also:

    Die große gemeinschaftliche Leistung freiheitlicher Gesellschaften ist es, Freiheitsordnungen, Lebenschancen und Verantwortungskultur für Gegenwart und Zukunft zu gewährleisten.

    Denn eine freiheitliche Gesellschaft ist nur dann freiheitlich, wenn sie die Möglichkeiten der nachfolgenden Generationen zur Freiheit (be-)wahrt; andernfalls beendet sich die freiheitliche Gesellschaft selbst.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar