Die Impfpflicht ist in den vergangenen Monaten kontrovers diskutiert worden – auch innerhalb der FDP. In der Kommission Freiheit und Ethik hatte sich deshalb nach Weihnachten 2021 eine kleine Arbeitsgruppe organisiert, die das Papier „Liberale Verantwortungsethik und Corona-Politik“ erarbeitet hat. Als Beitrag zu einer vernünftigen Diskussion über Modelle der Impfpflicht hinaus wurde es mit Stand zum 24. Januar 2022 an den Bundesvorstand und Mitglieder der Bundestagsfraktion verschickt. Inzwischen hat sich die Diskussion weiter entwickelt, aber einige Grundüberlegungen bleiben. Hier dokumentieren wir das Papier.
Zum Status des Papiers
Der folgende Diskussionsbeitrag wurde nach Diskussionen in der Kommission Freiheit und Ethik der FDP erstellt von einer Gruppe mit Dr. Christopher Gohl, Gerhard Dieterle, Prof. Dr. Joachim Fetzer und Kristin Franke. Die hier dargestellten Überlegungen erheben weder einen Anspruch auf abschließende Vollständigkeit, noch sind sie ein Beschluss der Kommission. Sie dokumentieren zum 24. Januar 2022 lediglich den Zwischenstand einer verantwortungsethischen Diskussion in der Hoffnung, damit unter Liberalen zur Qualität vernünftiger Meinungsbildung- und Entscheidungsprozesse beizutragen. Feedback ist willkommen.
I. Liberale Corona-Politik in einer neuen Phase
Winter 2021/2022: Als liberale Regierungspartei diskutiert die FDP in einer neuen Phase der Pandemie den weiteren Kurs ihrer Corona-Politik. Die Diskussion spitzt sich in der Frage nach einer Impfpflicht zu.
In der Kommission Freiheit und Ethik fragen wir uns:
- Welche Ziele verfolgt eine liberale Corona-Politik und wohin führt unser Kurs durch die Corona-Krise?
- Welche Erkenntnisse aus Forschung und Erfahrung prägen die stets fluktuierende Landkarte der Pandemie?
- Welche und wessen Freiheiten eichen unseren Kompass?
- Und wenn wir dann den liberalen Kurs kalkulieren: Welche Mittel und Maßnahmen, individuelle und staatliche, führen uns zu unseren Zielen?
Mit dem vorliegenden Papier versuchen wir, der Aufgabe liberaler Verantwortungsethik gerecht zu werden, in der Zusammenschau von liberalen Haltungen, Zielen und Mitteln zu einer gut informierten Beurteilung verschiedener Handlungsoptionen und ihrer praktischen Konsequenzen zu kommen – und damit zur Bekämpfung der Pandemie und der Erhaltung der Freiheit beizutragen.
II. Liberale Verantwortungsethik heißt, Konsequenzen für die Freiheit der Einzelnen abzuwägen
Wie jede Verantwortungsethik wägt liberale Verantwortungsethik moralische Intuitionen und ethische Traditionen im Licht von Fakten und Vernunft auf ihre praktischen Konsequenzen ab.
- Typische moralische Intuitionen von Liberalen sind Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Mitgefühl mit Leidenden, Fairness durch Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit, Respekt vor unterschiedlichen Lebensverhältnissen und Lebenseinstellungen, aber auch Respekt vor der Autorität freiheitlich gesetzten Rechts.
- Zu den ethischen Traditionen des Liberalismus zählen wir Vertragstheorien von John Locke bis John Rawls, die Pflicht- und Tugendethik Immanuel Kants, den kritischen Rationalismus von Karl Popper, die agnostische und evolutionäre Ethik Friedrich August von Hayeks, die konsequenzialistischen Traditionen des Utilitarismus und des Pragmatismus, den Lebenschancen-Ansatz von Ralf Dahrendorf und Amartya Sen, die Diskursethik von Jürgen Habermas sowie die Ethik weltbürgerlich verantworteter Freiheit von Karl Christian Friedrich Krause, Otfried Höffe und Claus Dierksmeier.
In all diesen Traditionen steht an erster Stelle das Primat der Freiheit des Einzelnen. Sie ist das Fundament eines in Würde selbstbestimmten Lebens und soll universal für jeden Menschen ermöglicht werden. Deshalb geht es dem politischen Liberalismus zentral um das freiheitliche Zusammenleben in einer nach diesen Grundsätzen organisierten freiheitlichen Gesellschaft. Denn die Verantwortung für die Freiheit anderer ist genauso Teil dieses Freiheitsverständnisses wie die Verantwortung für das Gemeinwesen, sofern durch dessen freiheitliche Organisation die persönliche Freiheit jedes einzelnen und aller überhaupt erst ermöglicht wird. Dazu gehört auch die Begrenzung persönlicher Freiheit, wenn durch deren Wahrnehmung die Freiheit anderer beschränkt bzw. verletzt wird. Der freiheitliche Zweck heiligt aber niemals unfreiheitliche Mittel. So gilt uns die Freiheit des Einzelnen zugleich als Begründung wie als Begrenzung allen politischen Handelns.
III. Zweck und Herausforderung liberaler Corona-Politik
III.1 Zweck liberaler Politik: Lebenschancen freiheitlich gewährleisten
Wozu macht die FDP Politik? Unser Leitbild „Mehr Chancen durch mehr Freiheit“ heißt in verantwortungsethischer Auslegung: Mehr Lebenschancen durch mehr freiheitliche Mittel, wobei Lebenschancen (nach Ralf Dahrendorf und Amartya Sen) als sinnvolle, individuell tatsächlich wünschenswerte und nutzbare Freiheiten verstanden werden.
Aufgabe liberaler Politik ist es demnach der Schutz, die Rückgewinnung und die dauerhafte Gewährleistung von Lebenschancen mit freiheitlichen Mitteln. Sie bleibt dementsprechend auch in der Corona-Pandemie der Auftrag liberaler Politik. Diesem Zweck dienen die Ziele und Mittel liberaler Corona-Politik.
Wie bewahren wir die Balance zwischen der Freiheit des und der Einzelnen und der Verantwortung für die Freiheiten anderer und für das Gemeinwesen? Das ist die Herausforderung (nicht nur) liberaler Corona-Politik.
III.2 Herausforderung: Vielfalt der Wahrnehmungen und Erfahrungen der Pandemie
Die Gefährdung durch und Bekämpfung von Covid-19 ist kein individuelles Schicksal. Das Erleben der Gesundheitsgefährdung und das Erleben der durch Kommunikation vermittelten Bedrohung ist am Ende aber immer eine individuelle und persönliche. Die Sinngebung und die Bewertung des Erlebens und Geschehens sind individuelle Akte: Wo die Einen mit Gründen massive Bedrohung sehen, sprechen Andere von übertriebener Angst. Wo die Einen durch persönliches Erleben und drastische Schilderungen aufgerüttelt werden, führt dies bei anderen zu Ausblendungs- oder Abwehrreaktionen.
Liberale Politik respektiert, dass es unterschiedliche Risikowahrnehmung und eine unterschiedliche Bereitschaft gibt, sich aktiv mit mathematischen Kategorien (z.B. Exponentialität) oder mit medizinischen Fachdebatten auseinander zu setzen. Liberale Politik respektiert auch die Unterschiedlichkeit von Lebenssituationen und Lebensstilen. Beispielsweise variiert die Zahl der persönlichen Kontakte in einem bestimmten Zeitraum in verschiedenen Lebensstilen massiv. Die Einschränkung von Kontakten wird von vielen als großes Problem, von anderen als relativ unproblematisch oder sogar erfreulich erlebt.
In der Pandemie kollidieren besonders scharf die Verbundenheit und wechselseitige Angewiesenheit von Menschen mit deren höchst-persönlichem und sehr unterschiedlichem Erleben (körperlich und seelisch). Dies irritiert viele Menschen, wenn das scheinbar Gleiche so unterschiedlich wahrgenommen wird. Die Notwendigkeit schneller kollektiver (und daher auch staatlicher) Maßnahmen und gleichzeitig der Respekt vor der Unterschiedlichkeit persönlichen Erlebens und Bewertens ist ein immer zu berücksichtigendes Dilemma der Corona-Politik.
IV. Ziele der Corona-Politik der Freien Demokraten
So wie sich die Pandemie und unser Wissen über ihre Auswirkungen dynamisch verändert, ändern sich auch die Ziele liberaler Corona-Politik.
Das Ziel des ersten Lockdowns im März 2020 war es, mithilfe massiver Kontakt-Einschränkungen im privaten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld die Ausbreitung der Pandemie zu begrenzen, auch um Zeit zu gewinnen – Zeit zum Lernen über das Virus, Zeit für die Beschaffung von Ressourcen, Zeit zur Rückgewinnung von Handlungsfreiheit.
IV.1 Als Oppositionspartei: Ziele der Eindämmung ab Mai 2020
Als Oppositionspartei haben wir die Strategie der Eindämmung der Pandemie mitgetragen, also: das Schlimmste zu verhindern, bis über die Entwicklung von Impfstoffen ein Weg aus der Pandemie gefunden werden sollte. Zur Eindämmung gehören insbesondere die Ziele, besonders vulnerable Gruppen zu schützen, das Gesundheitssystem vor Überlastung bis hin zur Triage zu bewahren und Unternehmen wie Selbstständigen möglichst nicht die Existenzgrundlage zu entziehen. Im Unterschied zur Großen Koalition haben wir Liberalen zugleich darauf bestanden, dass die Eindämmung zu möglichst freiheitlichen Bedingungen stattfindet.
- Zunächst sollten kostenlose Tests, bewährte Hygienekonzepte, digitale Innovationen sowie die Erleichterung von Homeoffice es für jeden Menschen sowie für Unternehmen, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen etwa in den Bereichen Bildung und Kultur erleichtern, mit Risiken möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich umzugehen.
- Wir haben uns für stets für effektive Impfkampagnen eingesetzt, weil wir damit nicht nur pandemische Wellen eindämmen können, sondern auch eine kontrollierte Immunisierung der Gesellschaft mit möglichst wenig Schäden erreichen wollen. Staatliche Grundrechtseinschränkungen etwa durch Lockdowns sollten möglichst gezielt und berechenbar sein und zudem durch die Qualitätsprüfung und -abnahme durch parlamentarische Debatte und Beschluss legitimiert sein.
- Die Konsequenzen von Grundrechtseinschränkungen sollten möglichst abgemildert und ausgeglichen werden – etwa durch Entschädigungen oder durch die Gewährleistung von möglichst guter Bildung, Bewegung und Begegnung für Kinder. Begleitet wurde dies durch massive staatliche finanzielle Stützungsmaßnahmen im Bereich der Wirtschaft zur Stützung von Unternehmen, deren weitere Existenz durch den Lockdown massiv gefährdet wurde.
- Wir Liberalen haben zudem einen Kurs der wissenschaftlich informierten Vernunft und Verantwortung vertreten – im deutlichen Unterschied zur Fundamentalopposition und Faktenleugnung der AfD. Dies gilt besonders auch für die Suche nach geeigneten Indikatoren der Pandemieentwicklung.
- Wesentliches Ziel liberaler Politik ist die Wahrung, Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung funktionsfähiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen durch Bekämpfung der negativen Auswirkungen der Pandemie. Die Existenzsicherung der Bürger, damit diese ihre Lebenschancen wahrnehmen, entwickeln und realisieren können, kann den Einsatz von Mitteln bedeuten, die der Einzelne für sich allein nicht wählen würde, die im Interesse der Mehrheit der Bürger zur Bekämpfung der Pandemie aber angeraten, sinnvoll und nach dem Stand der Wissenschaft angezeigt sind.
IV.2 Als Regierungspartei: Ziele der Eindämmung seit Oktober 2021
Als Regierungspartei bleiben wir primär dem Ziel einer (kurzfristigen) Eindämmung einzelner Wellen zu möglichst freiheitlichen Bedingungen verpflichtet.
- In der Regierungs-Koalition haben wir die Ausnahmesituation der Grundrechtseinschränkungen durch Verordnungen beendet und dem Parlament seine Vorrechte zurückgegeben.
- Zugleich haben wir mit dem Infektionsschutzgesetz ein Paket zur gezielten und dezentralen Bekämpfung der Pandemie jenseits zentraler Lockdowns geschaffen.
- Mit der Einrichtung eines zentralen Corona-Rates haben wir die Beratung von und durch Expertinnen und Experten gebündelt und transparent gemacht.
- Ebenso haben wir einen zentralen Krisenstab beim Bundeskanzleramt eingerichtet, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen und insbesondere die Impfkampagnen inklusive von Auffrischungsimpfungen besser zu organisieren.
- Mit einrichtungsbezogenen Impfpflichten, die im März 2022 in Kraft treten, wollen wir besonders vulnerable Gruppen gezielt schützen.
IV.3 Als Regierungspartei: Ehrgeiz auf dem Weg zur endemischen Lage
Als liberale Regierungspartei wollen wir zeigen, dass eine freiheitlich inspirierte Regierung die Pandemie überwinden und gesellschaftlichen Frieden in Freiheit ermöglichen kann.
Denn für uns ist es der größte Dienst an den Lebenschancen der Einzelnen, die Pandemie nicht nur einzudämmen, sondern zugunsten eines endemischen Zustands einer weitgehenden und kontrolliert erreichten Immunisierung zu überwinden. Wir erwarten uns von der Überwindung der Pandemie ein Ende der pandemiebedingten Belastungen durch biologische Unwägbarkeiten, durch gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Unsicherheiten sowie durch politische Konflikte um Vorschriften und Grundrechtseinschränkungen. Erst wenn unser Zusammenleben von diesen Belastungen der Pandemie befreit ist, also das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu einem „Normalzustand“ zurückgekehrt ist, können wir alle wieder unsere Freiheiten wahrnehmen und leben.
V. Abwägungen liberaler Corona-Politik unter den Bedingungen dynamischen Pandemiegeschehens: Ein Lernprozess
V.1 Die Dynamik der Pandemie…
Der dynamische Verlauf der Pandemie wird von vielen Faktoren beeinflusst und kann in seiner Entwicklung nur vorsichtig prognostiziert werden. Zu den dynamischen Faktoren gehört die Ausbildung neuer Mutanten, aber auch die Entwicklung neuer Impfstoffe und Behandlungsmethoden sowie neue Erkenntnisse zu den Folgen der Pandemie.
V.2 … verlangt Lernen…
Wir Liberalen verstehen Politik als Such- und Lernprozess. Wir bekennen uns zu einer evidenzbasierten Politik, die aus Erfahrungen und Erkenntnissen lernt. Mehr noch: Der Exit aus der Pandemie braucht auch Experimente. Aus liberaler Sicht ist die Pandemie ein gesellschaftliches Lernprogramm, in dem wir uns über die Ausbreitung des Virus und die Konsequenzen unseres Gegenstrategien fortlaufend verständigen müssen. Bisherige Positionen und Zielmarken zu korrigieren, wenn neue Erkenntnisse vorliegen, ist für uns kein Fehler, sondern ein Zeichen der Lernfähigkeit freiheitlicher Wissenschaften und liberaler Politik.
Unterschiedliche Arten von Lernen, von Lernprozessen, von Lerngeschwindigkeiten in der Gesellschaft sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Lernprozesse scheitern, wo wir Erfahrungen oder Meinungen von vorne herein als moralisch gut (weil konform) oder böse (weil nonkonform) abqualifizieren, einander missachten oder gar verachten. Selbstgerechtigkeit mag sich gut anfühlen, bringt uns aber nicht weiter. Lernprozesse gelingen aber, wo wir offen für andere Perspektiven bleiben und mit Korrekturen auf Kritik, mit Veränderungen auf Fehler reagieren, auch wenn das anstrengend ist. Wer in der Politik, in den Medien, in der Öffentlichkeit oder unter Bekannten über unsichere und schwere Entscheidungen spricht, sollte damit Lernprozesse befördern.
V.3 … aber auch Entscheidungen unter Unsicherheit.
Viel zu oft noch liegen in Deutschland keine belastbaren Daten vor. Aber auch wenn belastbare Daten zu einigen Faktoren vorliegen, müssen wir Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit zu anderen Faktoren treffen. Gegenwärtig entfaltet die Pandemie mit der Omikron-Variante eine Dynamik und Wucht, deren Folgen wir im Schlechten wie im Guten noch nicht abschätzen können. Ob am Ende der Omikron-Welle unsere Gesellschaft weitgehend immunisiert sein wird, zeigt erst die Zukunft.
V.4 Entscheidend bleibt es, freiheitliche Prinzipien und die gesamtgesellschaftliche Freiheiten-Bilanz auszubalancieren
Die Pandemie und unsere Gegenstrategien haben verschiedene, ungleiche und deshalb auch teilweise als unfair empfundene Auswirkungen auf die Lebenschancen von Menschen einschließlich deren wirtschaftlicher Existenz, wie sie in Freiheitsrechten geschützt, von Betroffenen als sinnvoll wünschenswerte, notwendige und nutzbare Freiheiten und Handlungsoptionen erlebt und von der Politik als Auftrag begriffen werden.
Politik, die der Freiheit des Einzelnen verpflichtet ist, ist den Freiheiten aller einzelnen Menschen verpflichtet. Zweck liberaler Freiheitspolitik ist es deshalb, die Freiheiten aller Menschen in einer fairen Balance zu gewährleisten, also: im Dienste größtmöglicher Freiheit der Einzelnen die gesamtgesellschaftliche Freiheitsbilanz zu optimieren. Dies bedingt ein sorgfältiges Abwägen der auf die Handlungsfreiheit des Einen zielenden Maßnahmen gegenüber dem Nutzen dieser Maßnahmen für Andere.
Wo wie in der Corona-Pandemie die Gewährleistung freiheitlicher Bedingungen das verantwortungsvolle Zusammenwirken von Menschen (beginnend etwa bei den AHA+A+L-Regeln) erfordert, fallen individual- und bevölkerungsmedizinische Überlegungen zusammen. Ergeben sich daraus moralische Pflichten? Und inwiefern sind diese staatlich erzwingbar?
Aus individualmedizinischen Empfehlungen ergibt sich unter nicht-pandemischen Bedingungen keine Pflicht. Jede und jeder kann selbst über seine Bereitschaft entscheiden, medizinische Risiken für sich selber einzugehen. Jedoch gilt bei hoch ansteckenden Krankheiten und noch mehr in einer Pandemie zum Umgang mit dem eigenen Gesundheitsschutz: Impfen ist in Zeiten der Pandemie keine reine Privatsache.
Aus der Freiheit der Anderen erwachsen jedem und jeder Einzelnen moralische Pflichten. Dabei besteht die erste moralische Pflicht nicht direkt im Impfen, sondern darin, andere Menschen nicht bewusst und auch nicht versehentlich zu gefährden oder unnötig einzuschränken. Dafür ist Impfen eine gute Hilfe, aber nicht der einzige Weg. Auch die Selbstisolierung und das regelmäßige Testen unabhängig vom eigenen Impfstatus tragen wesentlich zum Schutz anderer bei.
Verantwortung in der Pandemie erzeugt daher einen sonst nicht vorliegenden Trade-Off zwischen leibhaftiger Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Freiheit, auf Impfschutz zu verzichten. Ob am Ende eine allgemeine staatliche Impfpflicht unumgehbar ist, hängt davon ab, wieviel Lebens-Diversität bei gleichbleibendem Schutzniveau organisierbar ist.
V.5 Wessen Freiheiten – welche Lebenschancen?
Als liberale Partei haben wir besonders die vielen Lebenschancen im Blick, die durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung beschädigt worden sind:
- die Lebenschancen unserer Kinder, Auszubildenden und Studierenden, die bestmöglicher Bildung und Ausbildung, Bewegung und sozialer Begegnungen bedürfen, die eine normale Kindheit, Jugend und einen vernünftigen Start in das selbstständige Leben brauchen;
- die Lebenschancen von alleinstehenden Menschen und psychisch vorerkrankten Menschen, die besonders unter den Einschränkungen des sozialen Lebens und unter Vereinsamung leiden;
- die Lebenschancen von Frauen, die nicht nur besonders häufig in systemkritischen und in der Pandemie deshalb auch risikoreichen Berufen in der Pflege und Betreuung, an der Kasse und in der Reinigung vertreten sind, sondern auch in der Familie die Hauptlast unbezahlter und unsichtbarer Sorge-Arbeit für den Haushalt, die Kinder und in der Pflege von Angehörigen tragen;
- die Lebenschancen von Eltern, ökonomische Selbstständigkeit und familiäre Fürsorge miteinander vereinbaren zu können, ohne die psychischen, zeitlichen und ökonomischen Belastungen und Erschöpfungen der Pandemie tragen zu müssen;
- die Lebenschancen von Gewerbetreibenden, die in kleinen, familiären und mittleren Betrieben Dienstleistungen und Produkte für ihre Nachbarschaft, Stadt oder Region herstellen, und deren fortgesetzter Verdienstausfall zum Verlust von Arbeitsplätzen, Geschäftsmodellen, wirtschaftlicher Unabhängigkeit, Altersversorgung, Lebensträumen und urbaner Vielfalt führt;
- die Lebenschancen von bürgerschaftlich engagierten Menschen, deren Ehrenamt, Aktivitäten und Vereine unter den Belastungen von Corona zerbrechen;
- die Lebenschancen von Medizinerinnen und Medizinern sowie von Pflegenden, ihre Arbeit nicht auch im dritten Jahr unter der anhaltenden Belastung einer vernünftig vermeidbaren Ausnahmesituationen und jenseits der Grenzen des Zumutbaren bis hin zu Entscheidungen der Triage leisten zu müssen;
- die im Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2.2. GG) gegenständlichen (Über)Lebenschancen von Menschen, die der medizinischen Behandlung bedürfen, diese aber in Corona-Zeiten nicht oder nur eingeschränkt und unter erschwerten Bedingungen erhalten, oder die gar auf den Impfschutz ihrer Mitmenschen angewiesen sind, um die Chancen auf körperliche Unversehrtheit zu erhöhen;
- die Lebenschancen von Genesenen und Geimpften, die ihren Teil zur Überführung der Pandemie in eine Endemie geleistet haben und dennoch mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Krankheitsdurchbrüchen rechnen müssen, solange die endemische Lage nicht erreicht ist.
Ausdrücklich haben wir auch die Freiheitsrechte von Menschen im Blick, die sich bisher nicht geimpft haben, impfskeptisch sind oder sich bewusst entschieden haben, sich nicht impfen lassen zu wollen. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Motive, die wir differenziert betrachten.
- Manche impfskeptische Menschen schätzen die Wahrscheinlichkeit und die Risiken einer möglichen Infektion geringer ein als die Risiken einer Impfung und entscheiden sich daher mit aus ihrer Sicht guten Gründen gegen eine Impfung. Das respektieren wir, weisen aber auf die moralische Pflicht hin, andere nicht unnötig zu gefährden.
- Manche Ungeimpfte werden von den Angeboten der Impfkampagnen einfach nicht erreicht. Anderen fehlt es an individualisierten Angeboten zur Information und Beratung, um persönliche Bedenken zu besprechen.
- Ein gewisses Desinteresse an öffentlichen Fragen, z.B. der öffentlichen Gesundheit, ist eine durch Freiheitsrechte geschützte Haltung. Sie stößt aber bei der – notfalls durch staatliches Handeln durchzusetzenden – Nicht-Gefährdung anderer Menschen an ihre Grenzen.
- Andere begründen ihre Ablehnung der Impfung mit Unwahrheiten oder gar unbeleg-ten und unhaltbaren Verschwörungserzählungen. Verunglimpfungen und Verleum-dungen von Wissenschaftlern, Ärzten, Politikern sind inakzeptabel. Wir treten ihnen öffentlich mit den Mitteln der Aufklärung entgegen, darunter Wissenschaftskommu-nikation und Dialog.
- Corona-Politik darf natürlich nicht nur kritisiert, sondern auch Gegenstand friedlicher Demonstrationen werden. Es ist ein Gebot der Fairness und kluger Politik, andere Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Haltungen und Motivlagen zu Coronapolitik und Impfung nicht von vornherein mit Strömungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung in eins zu setzen. Umso mehr stellen wir uns allen entschlossen entgegen, die die Pandemie für Hetz-Kampagnen, Agitation und Aufruhr instrumentalisiert. Viel zu oft werden Proteste gegen die Corona-Politik von rechtsextremen und illiberalen Kräften genutzt und missbraucht, um unser liberales Gemeinwesen insgesamt anzugreifen oder grundsätzlich in Frage zu stellen. Verhetzung und Bedrohungen, etwa von Wissenschaftlern, Ärzten und Politikern, sind inakzeptabel. Wir bekämpfen sie mit der ganzen Härte des Rechtsstaates.
In eine liberale Abwägung der Freiheiten-Bilanz aller Menschen geht die Freiheit impfskeptischer oder impfunwilliger Menschen, sich nicht impfen zu lassen, ebenso ein wie die Konsequenzen solcher Entscheidung für die Lebenschancen anderer Menschen.
V.6 Die Abwägung von Zielen und Mitteln staatlichen Handelns muss von Freiheitlichkeit und Verhältnismäßigkeit geprägt sein.
Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist gegenständlich im Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2.2 GG). Dessen Einschränkung steht unter dem Vorbehalt eines Gesetzes, das es gegenwärtig in Bezug auf eine mögliche Impfpflicht zu Corona nicht gibt.
Noch vor und jenseits der freiheitsrechtlich gebotenen Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen stellt sich für Liberale die Frage nach der Freiheitlichkeit von Zielen und Mitteln.
- Die Freiheitlichkeit von Zielen ist gegeben, wo Freiheitsrechte geschützt und / oder im Einklang mit Menschen- und Bürgerrechten die Chancen jedes einzelnen Menschen auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben gewährleistet werden sollen. Dabei gehören zum selbstbestimmten Leben nicht nur die Handlungsfreiheiten, sondern auch die Freiheit zu der in Kap. III benannten selbstbestimmten Situationswahrnehmung.
- Die Freiheitlichkeit von Mitteln ist gegeben, wenn die Mittel im Korridor von Freiheitsrechten und in einem freiheitlichen Prinzipien entsprechenden Prozess bestimmt worden sind.
- Zu diesen Prinzipien zählen Freiwilligkeit und Zivilität, maximierte subsidiäre Selbstbestimmung, optimierte Mitbestimmung und legitimierte Fremdbestimmung, etwa durch die gerichtlich überprüfbaren Entscheidungen repräsentativer Parlamente.
- Traditionell zählen zu den freiheitlichen Prinzipien auch Freiheitspflichten – des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, und umgekehrt aber auch der Bürgerinnen und Bürgern untereinander. Die Mittel im Umgang mit Freiheitspflichten bleiben diskussionswürdig. Einerseits erscheinen moralisch inspirierte oder ethisch selbstbestimmte Pflichten vorzugswürdig gegenüber staatlich auferlegten Pflichten. Andererseits kann eine gerichtlich überprüfte, zweifelsfrei verfassungskonforme gesetzliche Regelung durchaus mehr Rechtsfrieden versprechen als der konfliktreiche Konformitätsdruck, wenn moralische Erwartungen mittels informellem sozialem Druck durchgesetzt werden.
- Die Verhältnismäßigkeit von Mitteln ist dann gegeben – Maßnahmen sind mit Blick auf die Freiheitsrechte dann verhältnismäßig – wenn mit ihnen ein legitimes Ziel verfolgt wird, ihr Einsatz geeignet und erforderlich und in der Abwägung aller Vor- und Nachteile angemessen ist. Als Liberale streben wir selbstverständlich verfassungskonforme und gerichtsfeste Entscheidungen an, weil sie dadurch freiheitsdienlich, vertrauenswürdig und rechtswirksam sind.
VI. Prioritäre Ziele und Mittel liberaler Corona-Politik: Eine Abwägung
VI.1 Endemische Lage erreichen? Ein freiheitliches und legitimes Ziel
Als Regierungspartei wollen wir mit freiheitlichen Mitteln die Wellen der Pandemie eindämmen und den endemischen Zustand der weitgehenden Immunisierung der Bevölkerung in Deutschland schnellstmöglich erreichen. Dadurch emanzipieren wir uns von den anhaltenden Einschränkungen der Lebenschancen, befrieden die dadurch entstehenden Konflikte und könnten die Pandemie wenigstens in Deutschland dauerhaft beherrschen. Das wären Freiheitsgewinne (vgl. oben).
- Eine zu hohe Zahl von Ungeimpften erhöht und verlängert nach wissenschaftlichen Erkenntnissen das Infektionsrisiko, dem sie sich und andere aussetzen. Darum und aus anderen Gründen sehen wir in der medizinisch informierten und kontrollierten Immunisierung eines möglichst breiten Bevölkerungsanteils den schnellsten, vernünftigsten, freiheitlichsten und verhältnismäßigen Weg in einen endemischen Zustand.
- Eine Immunisierung durch eine ungesteuerte Durchseuchung ist mit großen Risiken und Unwägbarkeiten für die Gesundheit vieler Menschen behaftet. Ohne andere einschneidende Maßnahmen kann sie schnell zu Überlastungen unseres Gesundheitssystems führen.
- Eine Eindämmung der pandemischen Wellen mit dem Aufwand bisheriger Kontaktbeschränkungen und Freiheitseinschränkung ohne den Ehrgeiz einer effektiven, schnellen und weitgehenden, medizinisch informierten und kontrollierten Immunisierungskampagne ist unseres Erachtens unzureichend.
- Deshalb halten wir am Ziel der raschen Steigerung der Impf- und Boosterquote fest.
Als liberale Regierungspartei prüfen wir verschiedene Möglichkeiten, wie wir Impfkampagnen möglichst effektiv und freiheitlich ausweiten können. Zu dieser Prüfung gehört es auch, verschiedene Formen der Impfpflicht abzuwägen.
VI.2 Zur Abwägung von Formen der Impfpflicht
Eine Impfpflicht erscheint nach Umfragen für viele Menschen in Deutschland ein Königsweg der medizinisch informierten und kontrollierten, weitgehenden Immunisierung zur Überwindung der Pandemie in einem endemischen Zustand. Auch namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werben für Varianten der Impfpflicht. Die regierende Ampel-Koalition hat mit den Stimmen der FDP bereits eine einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen.
Die eine und einzige Impfpflicht gibt es nicht. Impfpflichten werden in großer Vielfalt diskutiert und sind teilweise auch schon wirksam:
a) als ethisch begründete oder moralisch inspirierte, informelle soziale Erwartung;
b) als indirekte Notwendigkeit von 2G-oder 2Gplus-Regeln in Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen, der Gastronomie oder bei Unterhaltungs-Events;
c) als zeitlich auf die bestimmte Dauer des Seuchenfalls oder räumlich auf bestimmte Einrichtungen beschränkte Impfpflicht;
d) als eine auf bestimmte Segmente der Bevölkerung beschränkte Impfpflicht, etwa auf Erwachsene, die mit Blick auf Covid-19 besonders verletzlich sind – zum Beispiel Ältere (ab einem bestimmten Alter) oder Vorerkrankte;
e) als Impf-Entscheidungs-Pflicht, bei der eine Impfung weiterhin freiwillig bleibt, jedoch eine Entscheidung gegen eine Impfung ausdrücklich erklärt werden muss („Opt-Out“-Modell).
- Dabei könnte eine Einladung zu einem lokalen Impftermin für alle in Deutschland lebenden Personen mit Aufklärungsmaterialien und einem Angebot möglicher persönlicher Beratung versandt werden.
- Dieser Termin wäre dann verpflichtend wahrzunehmen, soweit er nicht durch einen Nachweis der Impfung erledigt oder eigenständig terminlich verschoben wird.
- Bei Nichterscheinen würde eine Geldbuße fällig, soweit nicht nachträglich eine bestehende Impfung nachgewiesen wird.
- An die Entscheidung gegen die Impfung sollte eine Aufklärung über oder sogar eine Einverständniserklärung für Konsequenzen geknüpft werden: Hierzu gehören weitgehende Testpflichten, ggf. die Möglichkeit des Arbeitgebers zur unbezahlten temporären Freistellung u.v.a. Wie weit ein solcher Katalog von selbstverantworteten Konsequenzen aus einer Nicht-Impfentscheidung gehen kann, wäre vor der Einführung zu definieren.
f) als generelle Impfpflicht für alle Menschen, sofern nicht medizinische Kontraindikationen individuell dagegen sprechen, die nicht als Impfzwang, aber bis zu Bußgeldern umgesetzt wird. Gemäß dem Prinzip der Freiheitlichkeit der Mittel, sollte die Wahlfreiheit innerhalb einer allgemeinen Impfpflicht möglichst groß sein. Daher empfiehlt sich die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht erst nach medizinisch verantworteter Zulassung weiterer Impfstoffe, jenseits von mrNA und Vector-Impfstoffen.
g) Einen Impfzwang lehnen wir als Liberale aus Respekt vor dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ab, welches auch für Impfskeptiker und Impfunwillige gilt. Ein Impfzwang mit körperlicher Gewalt ist kategorisch auszuschließen. Wer daher die Vielfalt der Impfpflichten einschließlich der generellen Impfpflicht mit Bildern von Polizei mit Spritze verunglimpft, handelt verantwortungslos und beschädigt den aufgeklärten Diskurs in diesem Themenfeld.
Wie bereits erörtert, sind Formen der Impfpflicht als Freiheitspflicht für Liberale prinzipiell denkbar und gehören zum Bereich ethisch legitimer Maßnahmen. Sie grundsätzlich auszuschließen, wäre (und war) daher nicht sinnvoll. Sie stehen aber unter großen Vorbehalten. Ein Impfzwang ist wie bereits begründet ausgeschlossen.
- Grundsätzlich erscheinen Impfpflichten als Mittel geeignet, das freiheitliche Ziel der medizinisch informierten und weitgehenden Immunisierung der Bevölkerung in Deutschland zu erreichen. Impfpflichten scheinen ferner geeignete Mittel zu sein, für die Wirtschaft und die große Mehrheit der Bevölkerung eine möglichst schnelle Rückkehr in die Normalität zu ermöglichen. Die ist zur Vermeidung der negativen sozialen, wirtschaftlichen und freiheitlichen Auswirkungen ein wesentliches Ziel unserer Politik.
- Welche der unterschiedlich ausgeformten Impfpflichten aber erforderlich und in Abwägung aller Vor- und Nachteile verhältnismäßig sind, kann nur nach Aufklärung dazu gehöriger offener Fragen und in Abwägung zu alternativen Maßnahmen zu bestimmten Zeitpunkten und für eine bestimmte Dauer entschieden werden. Dies ist zwar eine ethisch-relevante, aber eine situationsbezogene und letztlich politische Entscheidung. Je allgemeiner die konkrete Form der Impfpflichten ist, desto größer sind die Vorbehalte.
- Ob am Ende eine allgemeine staatliche Impfpflicht unumgehbar ist, hängt davon ab, wieviel Lebens-Diversität bei gleichbleibendem Schutzniveau organisierbar ist. (vgl. V.4). Der Zielkonflikt bzw. das Pandemie-Dilemma zwischen Selbstbestimmung und der Notwendigkeit einheitlichen Handelns und einheitlicher Regeln (sh. Kap. III) bleibt bestehen. Ein Angebot von unterschiedlichen Kombinationen individueller Freiheiten und Pflichten ist einer allgemeinen Standardvorgabe vorzuziehen.
Vor einer Entscheidung zu einer allgemeinen Impfpflicht sollten gegebenenfalls die Möglichkeiten der weniger umfassenden Impfpflichten genutzt und folgende Alternativen auf ihre Wirksamkeit und Folgen überprüft werden.
VI.3 Daten besser klären, modellieren und erklären
Auch wenn eine vollständige Informationslage Illusion bleibt und wir politische Entscheidungen immer auch unter Unsicherheit treffen müssen, brauchen wir in Deutschland eine bessere Datenlage und –auswertung in diesem Kontext, etwa zu folgenden Fragen:
- Welche Virus-Varianten herrschen vor?
- Welche kurz-, mittel- und langfristigen Folgen haben Covid-19-Erkrankungen?
- Welche kurz-, mittel- und langfristigen Folgen haben Covid-19-Impfungen?
- Wie hoch ist der Anteil der Menschen, die bereits zweimal geimpft bzw. geboostert worden sind, an der Gesamtbevölkerung?
- Wie hoch ist der Anteil von Geimpften bei Erkrankungen, Hospitalisierungen, intensivmedizinischer Betreuung und Todesfällen?
Diese Daten müssen in Szenario-Prozesse einfließen, mit denen Faktoren, Korridore und zeitliche Verläufe auch im Blick auf die globale Entwicklung der Pandemie modelliert werden. Zu modellieren wäre hier besonders die Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen medizinischen Folgen eine endemische Lage vorläufig oder auf Dauer erklärt werden kann.
Ebenso müssen die jeweils vorläufigen Erkenntnisse regelmäßig, einfach und verlässlich kommuniziert werden, etwa über Corona-Hotlines zur Aufklärung und Beratung bei offenen Fragen.
VI.4 Gewährleistung eines kostenlosen Testangebots
Gute Daten erhalten wir nur, wenn in Kommunen, Betrieben und öffentlichen Einrichtungen ein flächendeckendes und kostenloses Testangebot besteht.
VI.5 Förderung effektiver Hygiene-Konzepte
In letzter Konsequenz werden Covid-19-Viren auf den letzten Metern übertragen, wenn Hygiene-Konzepte wie AHA+A+L-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, App, Lüften) oder 2G oder 3-G-Regeln am Arbeitsplatz, im öffentlichen Personennahverkehrs sowie in Zügen des Nah- und Fernverkehrs nicht greifen. Wir Liberale stellen sicher, dass effektive Hygiene-Konzepte besonders in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, darunter Schulen und Universitäten, einfach umsetzbar sind. Ziel bleibt, dass es jeder Mensch einfach hat, sich und andere verantwortlich zu schützen.
VI.6 Potenzial zielgruppengerechter und kommunikativ verbindlicher Impfkampagnen erschließen
Die vorliegenden Daten ermutigen zu der Erwartung, dass zielgruppenspezifische, kultursensible, mehrsprachige und barrierearm auf vielen Kanälen kommunizierte Impfkampagnen das Potenzial haben, die Impfquote erheblich zu steigern. Kommunen, Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbände, andere gemeinnützige Organisationen und Multiplikatoren sollten dabei in geeigneter Weise einbezogen werden. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen zudem, dass eine direkte Einladung von Impfverpflichteten mit dem Angebot von personalisierten Impfterminen die Wahrscheinlichkeit einer Impfung erhöht.
In welchem Umfang eine mögliche Steigerung plausibel erwartet werden kann, sollte in eine Entscheidung über Notwendigkeiten und Formen der Impfpflicht eingehen.
VI.7 Gewährleistung einer flächendeckenden Infrastruktur niedrigschwelliger und ausreichender Impfangebote
Impfpflichten sind wirkungslos, solange es keine flächendeckende Infrastruktur zur Impfung und Boosterung (Impfzentren, Arztpraxen, Apotheken, Betriebsärzte, mobile Impfteams usw.) mit sehr vielen niedrigschwelligen Impfangeboten und ausreichend Impfstoff gibt. Soweit möglich, sollte der Impfstoff frei gewählt werden können, darunter möglichst auch traditionelle Tot-Impfstoffe. Das Ziel einer weitreichenden und effektiven Immunisierung bedarf zudem eines datensicheren nationalen Impfregisters, das die Einhaltung von Impfterminen sowie die Überprüfung der Umsetzung von Impfpflichten generell erleichtern würde.
VI.8 Aufrüstung von Kranken- und Arzthäusern
Unsere Kranken- und Arzthäuser sind kritische Infrastrukturen. Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegerinnen und Pfleger sind die ersten Katastrophenhelfer. Die Umstellung und Neuorganisation ihrer umfassenden medizinische Sorge bedarf weniger unseres Beifalls, sondern vielmehr der Entlastung und der entschiedenen finanziellen Unterstützung.
VI.9 Klare Kommunikationstrategie
Das Vertrauen der Bürger in die Politik und den Staat mit seinen Maßnahmen ist eine endliche Ressource, die durch missverständliche, vorschnelle oder defizitäre Kommunikation verspielt werden kann. Es ist dringend geboten, von einem Modus sich ständig übertreffender Weltuntergangsszenarien zurückzukehren zu einer klaren und sachlichen Kommunikation.
Dabei gilt der ethische und rechtliche Grundsatz: Mehr als das, was möglich ist, kann auch vom Staat nicht erwartet werden. Die prinzipielle und konkrete Durchführbarkeit staatlicher Maßnahmen muss daher vorab sorgfältig erwogen werden, um nicht Erwartungen zu wecken, die am Ende nicht erfüllt werden können. Dies gilt auch und gerade für die allgemeine Impfpflicht.
Die Ampel-Koalition muss über alle Kommunikationskanäle klarstellen, dass es bei der Pandemiebekämpfung und den in diesem Zusammenhang zu treffenden Maßnahmen um die Bekämpfung einer Pandemie als Ausnahmesituation geht und alle Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit und Notwendigkeit laufend überprüft werden. Freiheitseinschränkende Maßnahmen sind mit einem automatischen Auslaufmechanismus zu versehen.
VI.10 Perspektivisch: Lernprozesse im Umgang mit Krankheit und Tod fördern
Krankheiten zu vermeiden und Todesfälle zu verhindern ist ein wichtiges und viele Maßnahmen legitimierendes Ziel. Allerdings zeigen interindividuelle als auch internationale Vergleiche, dass es nicht den einen und einzigen richtigen Weg im Umgang mit Krankheit und auch mit dem Sterben gibt.
- Auch zu einer endemischen Lage gehört, dass Krankheit vorkommt. Wir müssen Lernprozesse anstoßen, wie mit dem Krankheitsverlauf gut und immer besser umzugehen ist.
- Die Befürchtungen und Ängste vor der Krankheit öffentlich und eindrücklich zu kommunizieren, kann im Rahmen von Impfkampagnen sensibilisierend wirken. Für das Durchleben der Krankheit kann solche Angstkommunikation aber verschlechternd wirken. Solche Zielkonflikte werden nicht immer hinreichend beachtet.
- Die faktisch unter dem beschönigenden Begriff „stille Triage“ vorkommenden ärztlichen Dilemma-Entscheidungen bei knappen Ressourcen der (Intensiv-)Medizin resultieren auch daraus, dass eine öffentliche Debatte über rechtsstaatliche Triagierungen bei höchstmöglicher Selbstbestimmung der Betroffenen noch unzureichend geführt werden. Diese weisen weit über die konkrete Pandemiesituation hinaus.
VII. Entscheidungen über die Corona-Politik gehören ins Parlament
Die Abwägung und Entscheidung über die Ziele und Mittel der Corona-Politik, darunter der mögliche Einsatz der Impfpflicht in ihren verschiedenen Formen sollte nach liberalen Vorstellungen im Parlament durch wissenschaftlich gut informierte, rechenschaftspflichtige Repräsentanten erfolgen.
Als liberale Regierungspartei sind wir gut beraten, keine mit möglicherweise knappen Mehrheiten beschlossene einheitliche und fraktions-verbindliche Beschusslage herzustellen, sondern unseren Repräsentantinnen und Repräsentanten in den Parlamenten eine persönliche Entscheidung abzuverlangen, die sie aber auch im Lichte der hier vorgenommenen Erörterungen treffen können.
Aus liberaler Sicht legitime und freiheitliche Entscheidungen umfassen unter den gegenwärtigen Bedingungen, die zugleich Unsicherheit geprägt bleiben, eine Bandbreite möglicher Entscheidungen – von der vollständigen Ablehnung bis zum Beschluss einer generellen Impfpflicht.
- Schon informelle soziale Erwartungen können einen freiheitsfeindlichen Druck der öffentlichen Meinung darstellen, dessen Ablehnung Liberale in der Tradition John Stuart Mills grundsätzlich begründen könnten.
- Sofern eine parlamentarisch beschlossene, generelle und verfassungskonforme Impfpflicht über den Weg des Rechtsfriedens eine dauerhaft endemische Lage effektiv herstellen und damit alle weiteren Einschränkungen von Lebenschancen vermeiden können, ist auch eine solche Entscheidung aus Sicht einer liberalen Verantwortungsethik legitim.